Mittwoch, 14. August 2013

Stadttreiben

Was ist es eigentlich, das eine Stadt zu etwas Besonderem macht? Natürlich ufert diese Frage ins schier unendliche (oder zumindest auf die Anzahl bemerkenswerter Städte und damit ins quasi unendliche), bezieht man sich auf eine bestimmte Metropole, Ortschaft und allem was dazwischen liegt. Was ist das Besondere an Paris, Hongkong, Mailand, Berlin, Moskau... dazu gibt es in jeder noch so kleinen Bahnhofsbuchhandlung mindestens ein Regal voller Lonely Planets und Baedekers.

Ich frage mich jedoch eher: Was ist es, das für Menschen den Zauber einer Stadt ausmacht. Warum gehen sie dorthin, wo viele andere sind, wo Lichter blinken und laute Geräusche von allen Seiten um Aufmerksamkeit buhlen. Wo es nach Essen riecht, nach einem Gemisch aus Parfum, Schweiß und Abgasen, wo es an manchen Orten grau und trist aussieht und an anderen dagegen prunkvoll, majestätisch, futuristisch. Mit dieser Beschreibung kann man, möchte ich anmerken, freilich nicht jede Stadt auf der Welt charakterisieren. Sie soll nur als eine Ansammlung einiger Merkmale dienen, die in meinen Augen sowie Ohren und Nase die größten Unterschiede zum Gegenteil, dem Leben auf dem Land, dienen. Denn, wie einem kaum entgangen sein wird, ist die Beschreibung nicht durchwegs positiv.


Es mag ja Leute geben, für die ist das Landleben ohnehin nichts. Bei grünen Hügeln mit Schafen drauf denken Sie höchstens an eine Werbung für Alpenmilchschokolade und beim Geruch eines frisch geodelten Feldes würden sie vermutlich spontan in Ohnmacht fallen. Verschlafene Orte, in denen es maximal einen Supermarkt gibt, der um 6 Uhr abends zusperrt und der keine Sandwiches, Salate und Kaffee "to go" im Sortiment vorsieht, machen ihnen Angst. Ich behaupte, meine Wenigkeit nicht zu dieser Kategorie Menschen zu zählen. Aber seit einiger Zeit bin ich mir nicht mehr so sicher. Denn trotz meiner Liebe zu frischer Landluft, ruhigen weitläufigen Feldern sowie entspannten Tieren und Menschen, zieht es mich wie einen Magnet zum Pol in die Stadt.

Was ist es also, fragte ich mich. Was ist das Ausschlaggebende. Es gibt da eine Palette an offensichtlichen Faktoren. Da wären einmal die Freizeitangebote. Ob ich mich nun spontan entscheide, einer Session Bikram-Yoga beizuwohnen oder aber einen Origamikurs belegen möchte: es findet sich sicher eine entsprechende Adresse. Mit Portalen wie Couchsurfing und ähnlichen lassen sich noch schneller Interessensgemeinschaften bilden, so dass keiner lange alleine Film schauen/ schneidern/ laufen/ was auch immer muss. Je größer die Stadt, desto schneller hat sich eine Gruppe von Leuten gebildet, mit denen man potenziell einfach mal alles unternehmen kann, das das Herz begehrt. Das wäre ein Faktor. Ein weiterer ist (konsequenterweise) die kulturelle Vielfalt. Heute in einem original und authentischem indischen Lokal, morgen Tokyo-Standard-gerechtwerdendes Sushi und übermorgen ein Hotdog, wie man ihn nur bei 7Eleven kriegt (das allerdings tatsächlich nicht in jeder (europäischen) Stadt). Viele Avantgarde- und Individualismuskinos, in denen so ziemlich jede noch so extravagante Filmvorliebe bedient wird. Theater, Musik, Kunst, aber auch Sportveranstaltungen, Live- und Openair-Events. Es hat wohl jeder sein eigenes Bild im Kopf, was genau er/sie sich von einer Stadt erwartet und womit er sich den perfekten Tag gestaltet. Je größer die Stadt, desto wahrscheinlicher, Befriedigung auf jedes noch so individuelle Anliegen zu finden.


Viele Argumente für das Leben in einer Stadt. Ist es das, fragte ich mich, ist es das, was für mich das Leben in einer Stadt ausmacht? Der Grund, für den ich treu blickende Schafe und grüne Weiden hinter mir lasse? Gedankenverloren, in einem Shakin-Salad (Becher Salat, Joghurtpampe drauf, schütteln, fertig. Mit Feta und Oliven, lecker.) stochernd, schlenderte ich meines Weges entlang der mit Touristen gepflasterten Fußgängerzone. Doch halt, nicht nur Touristen. Dort im Eck saßen ein Junge und ein Mädchen, die sich die Seele aus dem Leib musizierten, sie eher schreiend als singend, er eher schlagend als klimpernd. Sie hatte blaue Haare. Dann kam mir ein Mädchen entgegen mit einem Kleid, das ich so noch nie gesehen hatte. Ich überlegte, mir genau so eins zu schneidern (obgleich ich bei solchen Gelegenheiten gerne mal vergesse, dass ich leider gar nicht schneidern kann). In jedem Fall inspirierte sie mich zu tiefst. Dann dort, auf der Bank, da saßen zwei ältere Herrschaften, die so sehr zusammengehörten, dass man es sogar erkennen konnte, wenn sie einen Meter auseinander saßen und jeder seinen Gedanken nachhing.

Und da wurde mir klar: Ja, das ist es, mein Grund. Es sind die Menschen. Es ist dieses: Ich gehe raus und weiß noch nicht, was mich erwartet. Wer mir begegnet, was mich inspiriert, was ich sehen werde. Implizit natürlich darauf hoffend, auf diesem Wege auch meiner großen Liebe zu begegnen, bin ich durchaus auch für weniger zu begeistern. Wenn ich darüber nachdenke, steigert sich meine Fasziniertheit ins Unermessliche. Denn ein jeder, der einem begegnet hat seine eigene Geschichte. Hatte eine Kindheit, eine Jugend (bzw. erlebt sie so eben), Eltern, Familie, Freunde. Einen Job. Den Weg, wie er zu diesem Job kam. Die Gründe, die ihn für diesen Job an der Stange hielten. Leidenschaften, Hobbys, Interessen. Man begegnet diesem Menschen und atmet einen Bruchteil seiner Existenz für einen winzigen Augenblick in sich ein. Das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren und dem Nasenring, die einen bis auf die Eingeweide zu durchschauen scheint. Der ältere Herr mit Hut, wie er sanft über die Welt lächelt, als habe er all die Fragen, die man sich selbst jeden Tag so stellt, längst für sich gelöst. Die Dame in High Heels bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und mit erhobener Brust marschierend. Die traurig drein blickende mittelalte Frau mit dem lose hängenden Baumwollkleid und Schultern. Ja, ich könnte diese Liste ewig weiterführen. Und das allein mit Menschen, die ich in den letzten Stunden getroffen, oder besser gesehen habe.


Wenn ich sie ansehe, sehe ich auch mich im Verhältnis zu ihnen. Kann vergleichen. Kann abschätzen. Kann versuchen, zu verstehen, wo ich im Leben eigentlich stehe. Was ich möchte. Was ich NICHT möchte. Manchmal auch, wie ich sein will. Und ganz nebenbei entstehen Gedankengänge, die schließlich zu einem dieser Posts führen, den Sie so eben lesen.

Ja, letztlich ist es nicht der Coffee to go und der Bikram-Yoga-Kurs, die eine Stadt zur Stadt macht. Auch nicht der dreißigste Wolkenkratzer, der fünfzigste verglaste oder verchromte Firmenpalast oder der unter- und überirdisch verlaufende Verkehr.
Es sind die Menschen. Wie sie in ihrer Vielfalt die Straße bevölkern. Wie sie sich in Gruppen sammeln oder doch wieder zum Einzelgänger werden und in allen ihren Eigenheiten und Kuriositäten ihren Weg gehen und sich der Öffentlichkeit zeigen. Es ist "Leute kucken", es ist aber auch "sich inspirieren lassen" und es ist ganz besonders "denken, träumen, projezieren".


Und jeden Tag das Abenteuer: Wer begegnet mir wohl heute?

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