Mittwoch, 9. Mai 2012

Chatten. Mehr als leeres Blabla

"Ich hab's nicht so mit Worten." So oder so ähnlich formulierte es die weibliche Hauptfigur im aktuellen Kinohit "Die Tribute von Panem". Als sie dieses persönliche Manko leicht beschämt gestand, sprach sie wohl Millionen von Menschen aus dem Herzen. In Filmen gibt es solche Charaktere tatsächlich öfter: Sie drücken sich nicht gerne mit Worten aus, sie lassen lieber ihre Taten für sich sprechen. Es fällt ihnen schwer, ihre Gefühle zu artikulieren. Fatal wäre es hingegen im Folgeschluss anzunehmen, sie hätten gar keine. Denn wie es ja schon die Oma wusste: "Stille Wasser sind tief." Da hatte sie mal wieder Recht.


Es war einmal der Brief

Früher schrieb man sich Briefe. Nicht jeder jedem, aber es war eine anerkannte Form der Kommunikation, insbesondere, weil damit Gefühle, Gedanken und Mitteilungswürdiges auf Papier zunächst geordnet werden konnten, bevor der Brief den heimischen Schreibtisch verließ und auf Reisen zum Briefkasten des Empfängers ging. Mit Herzblut und Liebe Formulierungen überdenken, zu überlegen, schonungslose Ehrlichkeit in die sanftest und doch treffendsten Worte zu packen, Gefühle so zu beschreiben, dass es der Realität beinahe schon gerecht wird: Das alles offenbart die Kunst des Briefschreibens.
Heute schon einen Blick in ihre Post geworfen? Unwahrscheinlich, dass sich darin noch ein liebevoll mit Hand geschriebener Brief, geschrieben mit Schönschreibfüller und auf feinstem Büttenpapier befindet. In den meisten Fällen stapeln sich Rechnungen, Werbung, Informationsprospekte über die neuesten Angebote ihrer Mitgliedschaft bei Tchibo und ein Katalog für Damenmode in Übergrößen, bei dem sie sich wirklich nicht erinnern können, wann sie den denn bitte bestellt haben.

Obgleich es an und für sich schade ist, dass sogar die gute alte Postkarte aus dem Urlaub langsam aber allmählich deutlich seltener wird, möchte ich mich hier auf etwas anderes konzentrieren. Denn der Brief ist dabei, von uns zu gehen. Doch was an seine Stelle tritt sind eMails und, ganz besonders, Skype, msn, Facebook und alle Möglichkeiten, online zu kommunizieren, modern gesprochen zu "chatten".

Chatten = neumodischer Schnickschnack?

Zugegeben, Vorurteile gegenüber dem "Chatten" gibt es genug und klar von der Hand zu weisen sind diese nicht. Oberflächlich sei es. Leer. Zeitverschwendung, leeres Getippe innerhalb von Minuten oder sogar Stunden, die man sich doch auch hätte persönlich treffen können. Oder zumindest telefonieren! Doch hier möchte ich einmal klar darauf verweisen, dass auch die Qualität eines persönlichen Gespräches von Angesicht zu Angesicht klar von den zwei Nasen abhängt, die da miteinander kommunizieren. Wie ehrlich sie sind, was sie tatsächlich aussprechen, ob sie eine Maske der Fröhlichkeit aufsetzen, oder ihr "wahres Gesicht" (wenn auch leicht pathetisch formuliert) zeigen. All das ist nicht selbstverständlich, ganz sicher nicht der Regelfall. Muss es ja auch nicht. Nicht jedes Gespräch ist ein Gespräch unter engen Freunden und nicht jeder hat immer Lust, sein Herz dem Gegenüber auszuschütten und entsprechend kommentieren und bereden zu müssen. Aber soviel nur zum Klischee "Gespräche unter vier Augen sind besser".

Vom Füller zur Tastatur

Genauso wie ein sogenanntes "Face2Face"-gespräch nicht immer vor Offenbarung und Ehrlichkeit strotzt, tut es freilich auch kein per Internet geführter "Chat". Ich komme nun zurück auf vorher erwähnten Brief. Das, was im gesprochenen Wort oft verteufelt schwer ist zu formulieren, weil zu schnelllebig, zu spontan, zu sehr auf Extrovertiertheit und Offenheit angelegt, fällt vielen leichter, aufzuschreiben. Ob mit Hand und Füller auf Papier oder Fingern und Tastatur auf den Monitor spielt hierbei, wage ich zu behaupten, keine große Rolle. Möglicherweise ist der Chat DAS Kommunikationsmittel für Momente, in denen Menschen früher Briefe geschrieben haben. Die eMail setzt es noch eher eins zu eins um, da man hier einen gebündelten Text schreibt und wie ein Paket zusammenschnürt, Dinge wieder herausnehmen oder noch mit etwas Verzierung schmücken kann. Es sich durchlesen und überlegen, ob mit dieser Nachricht das gesagt wird, was man ausdrücken wollte.

Der Chat lebt!

Der Chat hat ein besonderes Feature: Er lebt! Er ist interaktiv. Person A schreibt etwas, Person B antwortet, Person sendet einen "Lachsmiley" und kontert fröhlich mit einer Retourkutsche. Lange Pausen werden wahrgenommen, emotionale Statements sind, genau wie bei gesprochener Sprache, auch in geschriebener vom jeweiligen Individuum abhängig. Wenn Anna "..." schreibt, heißt es etwas anderes, als wenn Peter kurz schweigt. Susi überlegt oft ewig, bevor sie zurückschreibt, ihr Chatpartner dagegen schickt ihr, um Unsicherheiten zu überbrücken, eine Amarda an fröhlichen Grinsegesichtern. Der eine hat ein Faible für den lustigen Smiley mit der Sonnenbrille, der andere ist ein großer Fan des Satzes mit einem einfachen "." dahinter. Klingt einfach viel cooler.
Also ein echtes Gespräch für "Nerds", für Leute, die sich einfach nur nicht trauen, in der "realen Welt" ihren Mund aufzukriegen? Würde ich nicht sagen, zumindest nicht nur. Ja, einerseits wird hier ganz deutlich denen unter den Arm gegriffen, die bisher Schwierigkeiten hatten, sich im Gespräch zu äußern. Es muss ja nicht bedeuten, dass diese nun zu einem Versauern vorm Bildschirm verdammt sind. Viel mehr können es die ersten Schritte hin zu einem geselligeren, kommunikativeren Leben werden, da man anfängt, Vertrauen zu anderen aufzubauen.

Kein Ersatz, viele Chancen

Andererseits: Der Chat ist, wie ich es sehe, nicht nur ein Ersatz für von Gesicht zu Gesicht, Augen zu Augen vorgetragene Unterhaltungen. So oder so kann man auch hier besser und in Ruhe über Antworten nachdenken und an Nachrichten feilen. So oder so eröffnet es die Möglichkeit, in Momenten, in denen man sich vielleicht gerade weder raustraut, noch jemanden anrufen möchte, dennoch wohlwollenden Kontakt anzunehmen. So oder so bedeutet es für viele die Möglichkeit, sich zu äußern, auf eine Weise, die sie vor fünfzig Jahren nur per Brief und damit verbundener (zumindest für eine Zeit) Einseitigkeit und Einsamkeit gehabt hätten.Sich mit geschriebenem Wort auszuprobieren, wenn die Zunge und Sprache sich noch nicht recht trauen mögen. Für viele, denen es aus diversen Gründen erschwert ist, zu reden und auf "normale Art" zu plaudern, eine Riesenchance.

Der Chat wird einen gemütlichen Abend unter Freunden, in denen man gemeinsam über alles quatscht nicht ersetzen. Ebenso wenig ein intimisches Gespräch zweier Menschen, die sich kennen und lieben. Menschen brauchen auf Dauer eine tatsächliche Nähe, eine körperliche Präsenz, da bin ich überzeugt.
Aber genauso wie man es dem Brief eingeräumt hat, den Mörsen und dem Telefon, verdient es auch der Chat:
Er ist eine eigene Kommunikationsform mit ganz besonderen Vorteilen.

Denn manches lässt sich eben noch besser aufschreiben. Und die Antwort folgt sofort.