Dienstag, 21. Januar 2014

One day baby we'll be old...

Immer wieder gibt es so virtuelle Kuriositäten, die sich in kürzester Zeit einer rasant wachsenden Beliebtheit erfreuen und, wenige Stunden nach ihrer Veröffentlichung, bereits zu Berühmtheiten auf internationaler Ebene zählen. Gerade in Zeiten von Facebook, Twitter und des 24/7-Online-Daseins haben besagte Kuriositäten ganz besonders große Chancen. Ein soziales Netzwerk, immer offen dafür, neuen Stoff aufzusaugen und so mitreißend wie ein Schwarm bunter Fische im Wasser.

Mal waren das schmollende Miezekätzchen, mal von Privatpersonen initiierte Covers von beliebten Liedern, dann wieder die Serie von mehr oder minder witzigen Posts eines selbsternannten Komikers auf Facebook. In einem aktuellen Fall handelt es sich um den Mitschnitt des Auftritts von Julia Engelmann, Psychologiestudentin und Ex-Darstellerin der RTL-Soap "Alles was zählt". Es ist ein sogenannter "Poetry-Slam"-Auftritt, sprich eine Reihe von aneinanderklebenden und möglichst wohlskandierten Worten, die gemeinsam fast schon dem Rhythmus eines Musikstückes wiedergeben sollen. Nicht etwa der Auftritt ist neu, der war bereits im Frühling 2013. Nein, neu ist der frische Wirbel, der nun um das Video und drumherum gemacht wird. 


Grundsätzlich mal finde ich den Auftritt nicht schlecht. Mutig stellt sich das blonde Mädl vors Mikrofon und spricht klar, mit ruhiger, dunkler Stimme, während man ihr das aufgeregt pulsierende Herz dennoch an der Nasenspitze ansieht. Gerade am Anfang noch ein wenig zittrig, fängt sie sich, und man möchte sie einmal ganz fest drücken und ihr auf die Schulter klopfen. Mal hebt sie die Arme und ein bisschen schütteln sie (wohl auch aus Nervosität) mit ihren skandierten Sätzen mit, doch ihre Performance kommt beruhigend und erfrischend  zugleich ohne große Körperartikulation aus. Dafür mal, in Facebooksprache, ein Like.

Aaaber... Was redet sie eigentlich? "Ich würd gern so vieles tun. Meine Liste ist so lang. Aber ich werd eh nie alles schaffen, darum fang ich gar nicht an", sagt sie gedankenvoll und setzt bald nach: "Lass uns Nachts lange wach bleiben, aufs höchste Hausdach der Stadt steigend, lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen. Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen..." und so geht es weiter. Klingt schon schön, klingt sehr gehaltvoll. Aber irgendwie spricht sie damit genau etwas an, was mir schon seit einiger Zeit tierisch auf den Senkel geht.

Eine Freundin und Kollegin schrieb auf das auf Facebook kursierende Video den Kommentar: "Was man nicht immer alles TUN muss!!!" Recht hat sie, finde ich. Da ist man dabei, seinen Alltag zu meistern. Geht obligatorischen Verpflichtungen nach, pflegt den Kontakt zu Freunden und Familie, betreibt seine geliebten, wenn auch vielleicht mittlerweile nicht mehr ganz frischen und neuen Hobbys und denkt vielleicht mal über den nächsten Urlaub, die nächste Reise nach. Und das soll dann leer sein? Zu wenig? Wie ein langer Spaziergang immer am Fluss entlang erscheint dieser Alltag manchmal sehr eingängig und fast schon trostlos, im nächsten Moment aber lieben wir genau das: Diese geordnete Routine, die wir uns ausgesucht haben und in der wir glücklich sind. Und in der wir überhaupt erst fähig sind, kleine Details wahrzunehmen, die im Strudel von aufgeregten Ereignissen ganz untergehen würden. Diese süßen Haubentaucher zum Beispiel, eine Vogelsorte, die mir erst sehr spät an den Ufern der Salzach aufgefallen ist. Aber zurück zum Thema.

Aufs höchste Dach steigen also. Die Nächte lang aufbleiben. Wurscht jetzt, ob man um spätestens 7 Uhr aufstehen muss. Dieses "Oh ich muss jetzt was erleben, dringend und zwar viel!" lässt sich anhand vieler Symptome ausmachen. Da wären die dutzenden Fotos von scheinbar unendlich witzigen und aufregenden Aktivitäten, die manch Facebook-Kumpane fast stündlich liefert. Wahlweise an einem Strand oder auf einer Party. Am besten beides. Da wären auch die vielen Storys über Weltenbummler und Lebenskünstler, die uns mehr faszinieren als alles andere.

Was passiert? Man fühlt sich blöd. Langweilig. Grau. Alles was man grad noch toll fand (spazieren gehen, Sims spielen, abends die neue Lieblingsserie kucken) erscheint einem plötzlich nur noch lächerlich. Fast schon verzweifeln könnte man bei dem Gedanken, dass aus all diesen geliebten aber leider langweiligen Tätigkeiten wohl nie genug kuriose Geschichten für die Enkelkinder hervor gehen werden. Oder für die Memoiren oder so. Alles nur weil man noch nie auf ein Dach gestiegen ist, schon gar nicht aufs höchste. Und nachts lieber schlafen möchte.

Ist es das wert? Der Wohlstandsgesellschaft zuliebe ins eigene Leben reinreden zu lassen und alles, was man tut, als nicht spannend genug zu befinden? Man kann ausprobieren. Warum auch nicht. Die Grundaussage von Julia Engelmann könnte ja auch als ein "Schau, was du nicht alles machen kannst" interpretierbar sein. Von daher sehr schön. Wären da nicht die mahnenden Worte ihres Refrains: "Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können." (Ursprünglich aus einem (tollen tollen tollen weil schööönen) Song des Künstlers Asaf Avidan)

Und wenn man am Ende aller Tage sagen kann: "Man kann viel machen. Ich habe nur ein bisschen was davon gemacht. Hat auch gelangt. War schön." Reicht das nicht? Ich glaube: Mir schon.


Julia Engelmanns Auftritt: http://www.stern.de/panorama/slammerin-julia-engelmann-dieses-video-koennte-ihr-leben-aendern-2083645.html

Das Lied: http://www.youtube.com/watch?v=KRAMNWzfjcg&list=PLfv--IKszaTt8uBAOQKGUZ2_ohIQcMDoQ

Donnerstag, 9. Januar 2014

Übers Biegen und Brechen

Seit Neuestem kann ich mich zu einer neuen Gruppe Menschen zählen. Nicht wie bisher zu den Sport-Wahnsinnigen, zu den Lonely-Wolf-Syndromlern oder zu den Trotz-ihres-Alters-GameboyAdvanceSP-"Zockern", sondern zu einer recht anders gearteten, die das Leben zumindest kurz- bis mittelfristig mehr verändert als es jede Spielkonsole und jede Schwimmbadbesuchfrequenz bewerkstelligen könnte. Seit neuestem gehöre ich zu den Menschen mit den aus diversen Ansagen berühmten Mobilitätseinschränkungen.

Darüber darf ich allerdings nicht den Fehler machen, zu melodramatisch und selbstmitleidig zu werden. Meine Mutter selbst erinnerte mich nach ersten liebevollen Worten des Trostes daran, und es war wohl einer der hilfreichsten Impulse der ersten Stunde mit meinen neuen Begleitern Schiene und Krücken. Denn, neudeutsch-schlechtenglisch gesprochen, gilt es, die Church in dem Village zu lassen. Es ist zwar ein Bruch, den ich mir zugezogen habe, aber ich darf mich weiterhin ohne Gips durch die Welt bewegen und auch die Krücken werden mich voraussichtlich nur eine kurze Zeit begleiten. Derweil sind sie mir, obwohl es nervt, sie in den Alltag zu integrieren, wortwörtlich eine wahre Stütze.

Wie alle Eingriffe ins Leben, seien es die ganz leichten von einem Schnupfen oder einer kleinen Kränkung, bis zu den leicht- bis mittelschweren wie meiner vorübergehenden "Behinderung", ist auch dieser für mich nach einer anfänglich gehegten in Selbstmitleid getränkten Frustration durchaus inspirierend und Erkenntnis-gebend.

Erkenntnis Nummer eins: Mein Gott, ist unsere Gesellschaft lieb! Ich möchte mich ja jetzt weder zu weit aus dem Fenster lehnen, noch einen verklärenden Blick über die Menschheit an sich (die sich ja durchaus einiger Verbrechen verschuldet hat und höchstwahrscheinlich zu jeder anbrechenden Sekunde neu verschuldet) vermitteln, aber ich bin erstaunt. Würde mir jeder Mensch, der mir gegenüber seit der kurzen Zeit von weniger als 72 Stunden auf Krücken sein von Herzen kommendes Mitleid mit einhergehenden fast schon liebevollen Gute-Besserungs-Wünschen geäußert hat, gleich noch 10 Cent mit auf den Weg geben, könnte ich zur Zeit jede Bestrebung zum Geldverdienen getrost ad acta legen. Von allen Seiten regnet es Schulterklopfer (natürlich sehr vorsichtig, ich könnte ja spontan in alle Einzelteile zerbröseln), freundliche Zunicker und helfende Hände, wo immer ich sie theoretisch brauchen könnte. Gleich drei Männer und Frauen unterschiedlichsten Alter stunden auf, als ich mich in den Bus begab, damit ich mich hätte hinsetzen können.

Im Bus blieb ich lieber stehen und auch meinen Rucksack trug ich die Treppen eigenmächtig hinauf. Ich verwende keine Lifte und halte mich ganz an den Hinweis des überaus fürsorglichen Physiotherapeuten, der mir meine Schiene und meine Krücken angepasst hatte: Jeder Stoß, jeden zunehmend weniger mühseligen Schritt, den ich auf meinen Gehhilfen tätige, fördert die Heilung. Tritt dem Bein, so in meiner Vorstellung, gewissermaßen freundlich in den Allerwertesten und drängt mit liebevollem Nachdruck: "Mach mal hinne, Frauchen braucht dich!" Um auch nur vorübergehend meinen "Krüppelbonus" zu nutzen, bin ich erstens zu stolz und zweitens zu stur. Ich werd schon wieder.

Die Hilfestellungen an sich nehme ich zwar (trotz ehrlich empfundener Dankbarkeit) nicht an, aber sie freuen mich in unerwartetem Maße. Mitleid war bisher etwas, das ich ungefähr so schätzte wie einen gebrochenen Hax, doch nun, da beides eingetreten ist, ist es einfach schön zu sehen: Es ist den Leuten nicht wurscht. Sie sehen nicht auf mich herab, sondern verhalten sich eher wohlwollend und bekräftigend. Insgesamt empfinde ich noch mehr als sonst ein Gefühl, das wohl nun pathetisch formuliert klingt, aber der Wahrheit entspricht: Man ist und ich bin auf dieser Welt nicht allein. Nie.

Die zweite Erkenntnis: Wer immer glaubt, alleine zurecht zu kommen und sich komplett auf Arbeit, Sport oder was auch immer stützen zu können, irrt meiner recht frisch aktualisierten Meinung nach gewaltig. Was haben sich meine Prioritäten geändert. Neben meinen liebevollen Eltern gibt es da einen ganz besonderen Menschen, der mir mehr half, hilft und überhaupt in allumfassenderem Maße helfen kann, als ich es je für möglich gehalten habe. Er ist bei mir und das allein scheint mir einerseits Superkräfte zu verleihen und andererseits beruhigend klar zu machen, dass ich diese gar nicht brauche. Seit der kurzen Zeit, die ich mit ihm teilen darf, finde ich mich immer häufiger eine bestimmte Textstelle in einem zugegebenermaßen recht kitschigen Lied summend. "I found a reason for me to change who I used to be. A reason to start over new. And the reason is you."

Ein gebrochener Hax als Impuls für einen Neuanbruch im Leben. Eigentlich eine schöne Metapher.