Samstag, 17. Mai 2014

Mag ich überhaupt noch weg?

In letzter Zeit habe ich immer wieder den selben Traum. Jedes mal finde ich mich darin auf einem anderen Fleck in der Erde wieder. Mal in der australischen Stadt Brisbane (war ich tatsächlich schon), dann wieder in einer sumpfig-moorigen Landschaft in wahlweise Schott-, Ir- oder Island (war ich noch nie). Jedes mal ist es ein an und für sich toller Blick, der sich mir bietet. Doch jedes Mal denke ich mir in diesen nächtlichen Trips das selbe: "Ach man, ist ja toll hier, aber ich will hier eigentlich gar nicht sein. Ich will viel lieber heim." (Ja, mir ist aufgefallen, dass sich das reimt. Scheinbar bin ich ein nächtlicher Poet.)

Jetzt, im wachen Zustand, geht in meinem Kopf eine Frage um, die vermutlich unnötig und ganz sicher ein Luxusproblem ist: "Bin ich zu faul zum Reisen?" "Geworden", müsste man hinzufügen. Denn in früheren Jahren habe ich mich bereits mit dem Rucksack ausgetobt, bin durch australische, neuseeländische und südostasiatische Gefilde gereist und habe dabei eine Menge Menschen, Hostels, Flughäfen und seltsame Gefühlsgemische kennen gelernt. Nicht immer hat mir das gut getan, aber das ist wohl eine andere Geschichte.

Oder ist es das wirklich? Denn immer, so stellte ich (zumindest für mich) fest, betritt mit fremdem Territorium auch ganz neue Arten von Seltsamkeiten. Man fühlt sich total aus den Angeln gehoben, wie ein Fisch der wider Erwarten auch an Land atmen kann, aber sonst keine Ahnung hat, wie er sich nun bitte zu verhalten hat. Das gilt insbesondere für die Gelegenheiten, bei denen man alleine verreist. Sonst tägliche Abläufe und eine deftige Portion Routine gewöhnt, kann es als seltsam leeres Gefühl daherkommen, plötzlich frei zu sein.

Eine der angesprochenen Seltsamkeiten stellte ich bereits früh in Australien fest. Was eigentlich reines Heimweh war, wurde mir besonders angesichts der einkaufenden Damen im Supermarkt klar. Manch eine hatte ein kleines Kind vorne im Einkaufswagerl sitzen, der anderen konnte man allein an den Windeln, Salatköpfen und überdimensionalen Schokokekspackungen, die sie vor sich herschub, dass sicher auf direktem Weg zurück heim in ein gemütliches Nest unterwegs war. Heim. Seufz. Der Gedanke an ein Zuhause saß wie ein tiefer Schmerz in mir fest. Wie ein Schluckauf, der nicht weg geht und mit jedem Hicksen noch mehr weh tut, der aber nicht weggehen will. Nicht mit Luft anhalten und auch nicht mit drei glatzköpfigen Männern.

Seltsam daran war, dass ich zuhause immer genervt war vom Zuhause. Nicht im Sinne einer tatsächlichen Unzufriedenheit oder gar unglücklichen Kindheit - nein. Aber ab einem gewissen Alter sehnt man, oder sagen wir sehnte zumindest ich mich nach etwas anderem. In der privilegierten Situation innerhalb einer intakten Familie und immer im gleichen schönen Städtchen behütet aufgewachsen zu sein, war die logische Konsequenz, dass ich mich als Spätpubertierende nach dem entsprechenden Kontrastprogramm sehnte. Abenteuer, Ferne.

Natürlich habe ich auch tolle Sachen auf Reisen erlebt. Das Heimweh suchte mich immer wieder heim, dazwischen lernte ich jedoch tolle Menschen, schöne Orte und all das kennen, was man sich als rucksackreisendes junges Mädl mit wilden Träumen eigentlich nur so wünschen kann. Ich hatte eine (wenn auch wirklich sehr unschuldige) Liebelei mit einem Tauchlehrer, mit dem ich mich weit ins australische Meer getraut und sogar einen Hai gesehen hatte, ich habe eine sehr lustige Woche mit sehr sehr netten Holländern in einem Bungalow mitten im Dschungel verbracht, konnte sämtliche romantischen Vorstellungen von den "wilden Cowboys im Outback" anhand meiner Nanny-Erfahrung auf einer Farm in der roten Wüste restlos beseitigen und fütterte kleine unglaublich niedliche und extrem zutrauliche Mini-Känguruhs, sogenannte Wallabys, mit der Hand. 

Aber eine wichtige Sache habe ich auf all den Reisen und insbesondere nun, da ich mich hier auf der überdimensionalen Couch (eigentlich ein umfunktioniertes Bett, aber pssst) neben meinem Herzallerliebsten gemütlich da fläzend mit dem wärmenden Laptop auf den Oberschenkeln wähnen darf, über mich selbst gelernt: Ich bin ein Nest-Mensch. Abenteuer schön, Erfahrung toll, Landkarten juhu. Aber nichts und ich wiederhole nichts ist schöner, als das Gefühl, angekommen zu sein. Und, um dieses Klischee noch zu vervollständigen, komme ich nicht umhin die Metapher vom weit gereisten und nun doch recht strapazierten Boot zu bemühen, das nach scheinbar endlosen Odyseen endlich in seinem Hafen angelangt ist.

Den Hafen wieder verlassen? Mal wieder rausspitzen? Trotz Gemütlich- und Wohligkeit ist diese Sehnsucht noch lange nicht erloschen. Fast jeden Tag schaue ich mich nach günstigen Flügen um, klicke mich wahlweise durch Bilder von Thailand, Island, Grönland, Nepal und jedem Ort an, den ich finden kann. Die Landkarte auf Google Maps studiere ich wie andere die Speisekarte oder die aktuelle Kollektion von Zalando.

Und doch sind da diese Träume, die mir eher nahelegen, zuhause auf der gemütlichen Couch zu bleiben und in der Umgebung, die ich liebe: Der Mönchsberg, die ganze Stadt Salzburg, die Menschen und ja auch Arbeit und Uni eingeschlossen. Soll ich auf sie hören? Ist das Leben auch lohnenswert wenn man nicht reist?

Ich glaube, da gibt es keine finale Antwort. Ich glaube nicht, dass ein Leben nur dann schön und erfüllend sein kann, wenn man möglichst viele Orte auf der Welt erkundet hat. Dafür kenne ich zu viele, bei denen Reisen eher einem Weglaufen vor sich selbst oder was auch immer gleich kommt. Und zu viele, denen man ihr Lebensglück ansieht, die meines Wissens niemals außerhalb der europäischen Grenzen waren.

Aber es gibt so viel Schönes auf der Welt zu sehen. Und wer weiß - das Heimkommen wird vielleicht noch viel schöner, nachdem man mal wieder Grenzen gecheckt und geschmeckt hat. Denn eins ist sicher: Nach dem Nest ist vor dem Nest.

Sonntag, 11. Mai 2014

Die Conchita-Ära

Gerade noch herrschte hyperaktives Gehüpfe auf der überdimensionalen Bühne. Mit ein paar letzten halbmotivierten Sprüngen auf dem eigens hergestellten Trampolin verließen die Griechen die Bühne. Dann geht das Licht aus. Man sieht, dass da eine Person steht. Sie beginnt zu singen. Und hätte die Funken, die um sie anfangen zu sprühen gar nicht gebraucht, damit alle zwanzigtausend Augenpaare ausnahmslos auf sie gerichtet sind.

Nicht mal der ORF-Moderator, der das Geschehen beim Eurovision Song Contest 2014 für die österreichischen Zuschauer kommentierte und begleitete, hatte an einen Sieg geglaubt. Klar, sie sei schon gut, sowohl von ihrer Aufmachung als von der Stimme. Aber Song Contest Gewinner? Die Frage, die er sich vielleicht wie viele andere gestellt hat, war: Sind wir wirklich schon weit genug, SO eine öffentlich zum europäischen Sieger und damit auch ein bisschen zum Gesicht zu erklären?

"From the fading light I fly - Riiise like a phoenix!" Ich höre mir diese Stelle immer und immer wieder an und die Gänsehaut will nicht weggehen. Vielleicht geht es momentan ganz vielen Menschen auf der Welt oder zumindest in Europa sowie den teilnehmenden Wählern der Show genauso. Denn irgendwie hat die Dame Wurst da einiges bewegt. Auch in mir drin.

Nein, ich bin kein Transvestit und nein, soweit mein Bewusstsein da nicht Meisterleistungen erbringt, um das unter ihm zu unterdrücken, habe ich auch kein Bedürfnis danach, ein Mann zu sein. Ich sehe nicht den Bart selbst als Inspiration, den Conchita als absolut unverwechselbares Markenzeichen trägt. Auch dieses divenhafte kann ich an ganz gewöhnlichen Mädls und Frauen eigentlich nicht ausstehen. Aber es ist ja nun mal wie es ist: Miss Conchita Wurst ist in Wahrheit ein Mister und somit in meinen und den Augen vieler vor allem eins: Ein wahnsinnig mutiger und inspirierender Mensch!

Ich bin eigentlich ein Mann? Egal. Ich muss mich vor vielen Menschen fürchten, wenn ich das anziehe, was ich am liebsten anziehe (nämlich Kleidchen und hohe Schuhe)? Seis drum. Ich bin mir sicher, im Alltag gab es vor dem großen Sieg für Conchita sicher genug Probleme in Form von vorurteilenden und pöbelnden Skeptikern, deren Hirnspannweite offensichtlich nicht reicht, um etwas anderes nicht automatisch als etwas zu bekämpfendes (oder wenigstens zu verurteilendes) anzusehen. Nach ihrem großen Erfolg gibt es nun auch Theater. Aber anders.

Auf ihrer Facebookseite schlagen sich die Menschen gegenseitig die Köpfe ein. Die, die sie lieben und die, die sie hassen. Dominanz erringen dabei relativ eindeutig die Fans. Mit gutem Grund (und ja, hier beziehe ich selbst Stellung und ich sage es frei heraus): Conchita ist nicht etwa nur ein Star oder Unternehmer, die sich schon allein durch ihre letztlichen Profitabsichten kritisier- und angreifbar macht. Einen Schuhhersteller kann man gut oder schlecht finden und das mit Fug und Recht. Man kann auch Conchita doof finden, ihren Stil, ihre Stimme, was auch immer.

Aber sie gibt den Menschen etwas mit auf den Weg. Kurz ist mir, muss ich gestehen, sogar ein bisschen die Metapher von Jesus eingefallen. Der ist ja in gewisser Maßen auch "gerised", auch wenn vielleicht ein wenig dramatischer mit Von-den-Toten-Auferstehen und so. Ok, diesen Vergleich aber nur kurz als Hirngespinst mit angeführt. Übersteigert ist er vermutlich sicher. Ich finde aber schon, dass es mindestens eine Parallele gibt: Beide brachten und bringen die Menschen zum Umdenken.

Conchita rised zwar nicht in einer komplett konservativen Gesellschaft, da sie ja von eben dieser gewählt wurde (wenngleich auch Recherchen interessante Ergebnisse ergeben, wer da tatsächlich am Hebel stand), dafür wird sie es angesichts von Morddrohungen und zahllosen Dissern wohl immer wieder tun müssen. Sie zeigt uns: Kopf hoch, Brust raus. Zeig, wer du bist, bleib so, lass dir nichts sagen. Nichts in der Welt ist es wert, sich selbst zu belügen. Europa steht damit nun vor einem Zwist, offenkundig speziell (mal wieder) ein Ost-West-Konflikt: Frau und doch keine, Mann und doch keiner - geht das? Die Russen haben sich ja schon zu Wort gemeldet. Ihre eigene Beliebtheit konnten sie unschwer an den überwiegenden Buh-Rufen angesichts ihrer eigenen zwei blond-bezopften Pferdchen beim Contest ermessen. Conchita jedenfalls hat ihre Fans und diese Fans - das ist in meinen Augen das Schönste - tragen nicht nur sie, sondern ihre ganze Gesinnung. Ich glaube daran, dass das ein Schutzschild darstellen könnte für jeden einzelnen Transsexuellen, Schwulen oder was auch immer, der Angst hat, anders zu sein. Zumindest gedanklich.

Und so wird Conchita nun ihren Weg gehen. Jeden Morgen die Augen aufschlagen, um sie anschließend genau so lange und intensiv zu tuschen, wie sie das möchte.

Und genau das wünsche ich ihr von ganzem Herzen.