Zugegebenermaßen neige ich auch hier zur Überzeichnung und freilich sind wohl die meisten Hörer mit ganz individuellem Geschmack einfach nur Menschen, die keine Lust auf das haben, was mal eben frisch aus Amerika als "neuer Hit" versucht wird, zu verkaufen. Sie nehmen sich die Möglichkeiten der heutigen Zeit mit gutem Recht und stellen sich aus ihren Lieblingen eine Playlist zusammen, die ihnen nicht nur gefällt, sondern in der sie sich wohl und zuhause fühlen. Nicht jeder, der individuell sein möchte, tut das um es nach außen hin zu tragen. Es scheint also für beide, die Hipster und die Freidenker, von Vorteil zu sein, wie das heutzutage läuft mit dem Individualismus der Musikauswahl und dem Abkehr von der Bravo-CD.
Noch immer befand ich mich in besagter Post, beim Anblick der Bravo-CD ins Grübeln geraten. Urplötzlich erschreckte mich ein kleines Stimmchen, es kam von irgendwo. "Aber manchmal", wisperte es leise und ein wenig schüchtern, "manchmal wär's doch auch ganz nett. So eine Bravo-Hit Kollektion." Und da merkte ich, dass es für mich gedanklich schon lange nicht mehr nur um Musik ging. Es ging um Leben, Studieren, Arbeiten, Familie, Reisen, Daheimbleiben, Tun und Nichtstun. Tatsächlich will doch jetzt eigentlich jeder und überall zu jeder Zeit individuell sein. Je mehr Leute Yoga machen, biologisch und ökologisch denken und handeln, mit Rucksäcken verreisen, sich sozial engagieren oder aber auch steile Karrieren erklimmen und Doktortitel einsahnen, desto weniger scheint noch Platz da zu sein, um sich was eigenes zu finden. Alle Wege, die früher als individuell galten, wurden schon eingeschlagen. Von jeder Seite kommen munter Empfehlungen, es ihnen nachzutun. Individualität ist kein Luxusgut mehr, es ist Alltag. Hektisch versucht man, mitzuziehen, möglichst einen ganz besonderen, eben seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Ob Rucksackreise nach Australien, exotisches Auslandspraktikum in Peru oder auch nur freiwilliges soziales Jahr im eigenen Heimatsdorf. Da soll sich noch jemand orientieren, im riesigen Meeresstrudel der Möglichkeiten.
Die Bravo-CD hat vielleicht nicht immer die beste Musik geboten, aber eins schon: Einen Rettungsanker. Zumindest was Musik betraf. Man kaufte sie sich, hörte sich durch, war auf dem Stand. Konnte mitreden. Der Grundstock war solide, den Rest konnte man sich ja dann dazu finden. Man konnte sich irgendwie darauf verlassen, dass auch die anderen sie sich kauften und somit hatte man ein Richtmaß.
Wie wär's mit sowas für's Leben? Ein Basic, mit dem man auf jeden Fall mal alles richtig macht? Egal ob man heiratet und Kinder kriegt, oder studiert und Karriere macht, oder auf alles scheißt und künftig nur noch aus dem eigenen Rucksack lebt und unter Brücken schläft: Die Zeiten eines unumstrittenes Lebensmodells, an das man sich mal eben halten kann, sind passé.
Da wär so ne Bravo CD schon mal gut, nur so um sicher zu gehen. Letztlich kann man sie ja dann auch im Regal liegen lassen. Einfach nur froh, zu wissen, dass es sie theoretisch gibt.
Ich verließ die Post nachdenklich, ohne die CD. Aber ich schmiss zuhause das Radio an. Mal hören, was de anderen so hören. Letztlich ist es ja ein Geschenk, begriff ich.
Inspiration statt Passform.
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