Das Heute ist eigentlich frei
Bindungsphobiker, Burnout-Opfer und unverbesserliche Workaholic-Perfektionisten haben möglicherweise eins gemeinsam. Es geht ihnen nicht um das heute. Das Hier und Jetzt liegt klar in der Hand. Der Burnout weiß, dass er nur seinen Rucksack packen, den nächsten Bus nehmen muss und dann wandern kann, so weit er will. Der Bindungsphobiker weiß, dass er nach einer schönen Zeit zu zweit im Stande ist, sich wieder seines eigenen Weges zu machen. Und der Workaholic weiß, dass das anstehende Projekt auch am nächsten Tage noch rechtzeitig fertig würde, wenn er nun seine Arbeit in den Schoß legen und den Feierabend genießen würde. Ja, das Hier und Jetzt ist klar ersichtlich, da es direkt vor einem liegt und greifbar ist. Ob ich mit den Augen zwinkere, den linken Arm hebe, oder gar aufstehe. Die direkten Konsequenzen kenne zunächst nur ich selbst. Es bin also allein ich die Entscheidungstragende.
Auf zu neuen Leistungen: Die Angst vorm Morgen
All die genannten Persönlichkeitsprofile denken meines Erachtens nicht ans Jetzt, nicht ans Heute. Es geht um das Morgen. Es sind die Konsequenzen, die ein Handeln mit sich zieht. Wer heute geleistet hat, der sollte das auch morgen tun. Wer heute seiner Angebeteten die ewige Liebe versprochen hat, der hat sie schließlich auch morgen noch zu empfinden. Es ist entweder ein tolles Versprechen, das aufrecht erhält oder aber eine niederschmetternde Erkenntnis: "Und morgen wieder das selbe". Eine Idee, ein neues Feuer brennt eine Weile in der Euphorie über Besonderheit und Neues, bisher Unbekanntes. Doch dann beginnt es zu flackern, schwächer zu werden. Neues Brennholz muss her, neue Genialität, neue zündende Ideen.
Und da beginnt sie, aufzukeimen. Die Angst vor der Zukunft. Eine Müdigkeit und Trägheit, die sich schwer über die Glieder legt im Anbetracht der Tatsache, es könnte vielleicht nie genug sein. Eine lähmende Betäubung, wenn jeder Tag aus eigener Kraft geschmiedet werden muss. Nichts von selbst kommt und alles darauf baut, dass man ja so geschickt und klug bleibt, wie man es schon war.
Ein glücklicher Tag ist schön, doch wohin führt er, wenn es zuviele der schönen Tage werden? Wenn sie sich aufhäufen zu einem einzigen Kontinuum, das auf Dauer alle Sinne und Gefühle betäubt und blind macht für die Schönheit? Licht braucht Dunkel und Mensch erkennt Besonderes, leider aber oft nicht Alltägliches. Und sei das Alltägliche noch so bezaubernd.
Dilemma der Fleißigen und der großen Taten
Das ist also das Dilemma. Wer immer eine tolle Leistung bringt, große leidenschaftliche Gefühle empfindet, geniale Ideen hat. Es wird einmal nicht mehr jetzt sein, sondern gestern. Es wird verrauchen und vergehen und an seine Stelle müssen dann die neuen Wunder her. Diese müssen sich einem immer höher werdenden Erwartugnsdruck stellen, ihm gerecht werden. Nicht weniger faszinierend und toll als das davorherige dürfen sie sein. Am besten noch größer, besser, höher, weiter.
Klingt deprimierend? Ja, deswegen hatte ich wohl immer dieses Gefühl, wenn mir jemand ein Kompliment machte. Ich wollte den Moment anhalten, die Gabe aufrecht erhalten und für immer als etwas besonderes gelten lassen. Doch ich wusste, das Morgen käme so sicher wie das Amen in der Kirche. Und das Kompliment würde mit sich auch die Erwartung ziehen, Tolles möge entweder genauso toll bleiben oder besser noch sich entwickeln und größer und stärker werden. Wer ein Kompliment für seine Figur erhält, bekommt gleichzeitig mit auf dem Weg: "So ist es gut! Verändere dich nicht!" Zumindest hört es sich in meinen Ohren so an und es wäre interessant für mich, zu erfahren, ob es anderen nicht ähnlich geht.
Und wo geht's da raus?
Was ist der Weg aus diesem Schlamassel?
Ich glaube, er ist nicht schwer. Quer denken ist mal wieder gefragt.
Es geht vielleicht einfach nicht darum, was man kann, was toll ist an einem und was nicht.
Es geht darum, seinem Herzen zu folgen. Nichts zu tun, weil andere es toll finden und loben, sondern weil das eigene Herz voll Euphorie klopft dabei. Und noch etwas, das vielleicht nun wie eine Binsenweisheit klingt, aber nun einmal von immer währender Bedeutung und Richtigkeit sein wird:
Bei Menschen zu sein, die einen schätzen, wie "gut" oder "schlecht" man eben gerade ist.
Und aufeinmal zählt es gar nicht mehr so viel, das Kompliment. Es ist eine Wertung, es ist ein Geschenk. Es ist nichts, worauf man sein Leben stützen könnte oder sollte
Aber das warmherzige Lächeln der eigenen Mutter oder eines guten Freundes, das Gefühl von Geborgenheit. Darauf kann man bauen. Auch das Morgen wird es nicht einreißen, denn das Fundament setzt hier nicht darauf, immer weiter zu schaffen, zu bauen und möglichst erfolgreich zu sein. Es steht einfach und bietet ein Zuhause. In das wir uns zurückziehen können, auch wenn Komplimente von gestern auf heute nicht mehr zählen und alles sich zu verändern scheint.
Und die Komplimente, der Lob und all die Aufmerksamkeit? Die großen Säulen für viele, die dominierende Leistungsgesellschaft? Ach, zum Teufel mit ihr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen