Mittwoch, 25. April 2012

Zeit haben = sich Zeit nehmen

Es ist ein neues Buch rausgekommen, das nun in den Zeitschriften diskutiert, seziert und analysiert wird. Die meisten sind sich einig: Genial. Die Rede ist von der "Long-Life-Formel" von Howard Friedmann und Leslie Martin. Die Studie an sich, um die sich das Buch dreht, ist ziemlich interessant. Von ihrer Geburt in den 20er Jahren an bis zu ihrem Tod dokumentierten die Forscher die Lebensweise und den Lebensverlauf von anderthalb tausend Menschen. Sie alle ernährten sich unterschiedlich, hatten verschiedene Hobbys, Freizeitgestaltungen, Freundeskreise. Die Unterschiede im Lebensstil werden im Buch verglichen, analysiert, um so herauszufinden, welche Faktoren ausschlaggebend für ein langes Leben sein könnten.

Anleitung zum Altwerden

Sicher eine sehr ungenaue und grobe Zusammenfassung, doch hat mich das Buch zum Nachdenken angeregt. Besser gesagt nicht das Buch, sondern die große Aufbereitung dieses in den Medien. Dass das Thema "Lange, glücklich und zufrieden leben" aus naheliegenden Gründen nicht uninteressant für den Homo Tausendmal-Sapiens ist, klar. Dass es Bücher ohne Ende gibt, bei sich Wissenschaftler, Experten (oder auch nicht) detailiert erklären, warum genau Brokkoli, Yoga oder dreimal Laufen in der Woche uralt werden lässt, wissen die meisten auch. Seit wir dank unserer Wohlstandsgesellschaft Zeit und Muse haben, um uns über so etwas Gedanken zu machen, ist es ein Riesenthema. Gesundheitsapostel schlagen sich seit langem geradezu die Köpfe darüber ein: Wie können wir möglichst lange auf diesem Planeten verweilen? Dennoch hatte ich persönlich bis zur Veröffentlichung besagten Buches von dem ganzen gar nicht so viel mitbekommen. Vielleicht weil ich noch der Generation angehöre, die Brokkoli isst und joggt, um knackig fit und nicht etwaum alt zu werden.

Wieso nochmal wollen wir alt werden?

Was mich nur verwundert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird: Klar, wir wollen alle alt werden. Zeit auf Erden, sie möge vom Himmel herabfallen! Wir sind auch ganz artig.
Aber mal weg vom Vielleicht-in-einem-halben-Jahrhundert und zurück ins Hier und Jetzt. Da ist eine Uhr. Der Zeiger steht auf ein Uhr nachmittags. Was fällt Ihnen dazu ein? Pling, da ist er schon, der mentale Terminkalender. Das nächste Meeting, die Küche, die zu putzen ist oder ein Treffen. Selten der Gedanke: "Hurra ich habe noch elf Stunden, bevor dieser Tag zu Ende geht." (Es sei denn, beim nächsten Tag handelt es sich um eine Deadline für die längst abzugebende Arbeit.) Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist kein Vorwurf: Wir sind nunmal einfach nahezu Meister darin, uns unsere Zeit zu verplanen. Für einen kurzen Zeitraum empfindet man es, besonders nach einigen hektischen Stunden, als angenehm, mal wirklich "Zeit zu haben", statt sie wieder in etwas zu investieren. Einfach nur herumzuhängen, durchzuatmen, zu denken, zu sein.
Doch dann geht es schon wieder los. Man wird unruhig, kribbelig, alle sind in Bewegung, tun etwas. Wer hängt denn schon den ganzen Tag rum? Als Tagesplan, in schlechten Momenten auch als Hamsterradl, wird das bezeichnet, was früher oder später jeder von uns hat. Wir suchen nach Möglichkeiten, Zeit zu vermehren. Gleichzeitig sind wir eifrig dabei, sie bloß wieder loszuwerden, sobald sie da ist. Vielleicht wäre es zunächst einmal wichtig, Zeit auch wirklich als solche wahrzunehmen und schätzen zu lernen.
 

Mehr Zeit zum Zeit Totschlagen

Noch verblüffender erscheinen nämlich in diesem Kontext Ausdrücke wie "Zeit totschlagen", die nicht selten gewählt werden. "Weg von der Straße sein", "endlich wieder was zu tun haben" und so weiter. Man will doch alt werden, um mehr Zeit zu haben. Und dann schlägt man sie tot? Es ist ja wirklich nicht so, als wüssten wir nichts mit unserer Zeit anzufangen, wenn keine Aufgabe anstehen würde. Im Kopf haben wir sie schon tausendmal gemalt, die Aquarellbilder und Bleistiftzeichnungen, oder drehen unseren eigenen Kurzfilm, den wir auf Youtube stellen wollen. Achja und da wäre noch der Modeblogg, den man ganz sicher bald mal machen will. Wenn man eben Zeit hat.

Leben + Sich Zeit nehmen = Zeit haben

Meine Frage, die nun niemanden in Verzweiflung stürzen, sondern einfach nur zum Nachdenken anregen soll (auch mich selbst): Hat man Zeit? Wann hat man die denn? Kommt die per Post? Mit einem Schleifchen drumrum und der Botschaft "Herzlichen Glückwunsch, Ihnen wurde so eben drei Tage, 72 Stunden, Zeit geschenkt. Viel Spaß damit."?
Oder aber... nimmt man die sich einfach? Hardcorevariante wäre, alles stehen und liegen zu lassen und einfach spontan in den Zug zum lange ersehnten Ausflugsziel einzusteigen. Fände schreiendes Baby, gestresster Chef oder wartender Partner vielleicht nicht so lustig. Aber es kommt der Tag, da kommt auch die Chance. Chance auf freie Zeit. Nichts tot schlagen, nichts planen, sondern das tun, was man möchte. Oder solange nichts tun und einfach nur Gedanken schweifen lassen, bis man weiß, was man tun möchte. Das würde ich als "Zeit haben" bezeichnen. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, oft ist es tatsächlich schwer, sich überhaupt mal ein wenig Zeit für sich freizuschauffeln. Ich glaube nur, selbst das Schauffeln will gelernt sein. Statt also an in-einem-halben-Jahrhundert zu denken, wäre es vielleicht klüger, sich hier und jetzt, wann immer es geht, ein paar Stündchen oder sogar Tage zu nehmen.

Vielleicht stellt sich dann auch irgendwann gar nicht mehr die Frage, wie man noch mehr Zeit zum Totschlagen auf Erden gewinnen kann. Weil man wichtigeres zu tun hat. In der Wiese liegen und nachdenken zum Beispiel. Und Aquarellbilder malen.

1 Kommentar:

  1. Verdade...
    Leider ist das Problem großteils auf die Kopflastigkeit und die Rationalität zurückzuführen, die besonders in Nordeuropa die Emotionen unterdrücken und so ein Leben nach Lust und Laune verhindern.
    Ich lese deinen Blog nur ab und zu, aber ich finde deine Themen und deinen Schreibstil echt super. Weiter so!
    lg Johannes

    AntwortenLöschen