Donnerstag, 9. Januar 2014

Übers Biegen und Brechen

Seit Neuestem kann ich mich zu einer neuen Gruppe Menschen zählen. Nicht wie bisher zu den Sport-Wahnsinnigen, zu den Lonely-Wolf-Syndromlern oder zu den Trotz-ihres-Alters-GameboyAdvanceSP-"Zockern", sondern zu einer recht anders gearteten, die das Leben zumindest kurz- bis mittelfristig mehr verändert als es jede Spielkonsole und jede Schwimmbadbesuchfrequenz bewerkstelligen könnte. Seit neuestem gehöre ich zu den Menschen mit den aus diversen Ansagen berühmten Mobilitätseinschränkungen.

Darüber darf ich allerdings nicht den Fehler machen, zu melodramatisch und selbstmitleidig zu werden. Meine Mutter selbst erinnerte mich nach ersten liebevollen Worten des Trostes daran, und es war wohl einer der hilfreichsten Impulse der ersten Stunde mit meinen neuen Begleitern Schiene und Krücken. Denn, neudeutsch-schlechtenglisch gesprochen, gilt es, die Church in dem Village zu lassen. Es ist zwar ein Bruch, den ich mir zugezogen habe, aber ich darf mich weiterhin ohne Gips durch die Welt bewegen und auch die Krücken werden mich voraussichtlich nur eine kurze Zeit begleiten. Derweil sind sie mir, obwohl es nervt, sie in den Alltag zu integrieren, wortwörtlich eine wahre Stütze.

Wie alle Eingriffe ins Leben, seien es die ganz leichten von einem Schnupfen oder einer kleinen Kränkung, bis zu den leicht- bis mittelschweren wie meiner vorübergehenden "Behinderung", ist auch dieser für mich nach einer anfänglich gehegten in Selbstmitleid getränkten Frustration durchaus inspirierend und Erkenntnis-gebend.

Erkenntnis Nummer eins: Mein Gott, ist unsere Gesellschaft lieb! Ich möchte mich ja jetzt weder zu weit aus dem Fenster lehnen, noch einen verklärenden Blick über die Menschheit an sich (die sich ja durchaus einiger Verbrechen verschuldet hat und höchstwahrscheinlich zu jeder anbrechenden Sekunde neu verschuldet) vermitteln, aber ich bin erstaunt. Würde mir jeder Mensch, der mir gegenüber seit der kurzen Zeit von weniger als 72 Stunden auf Krücken sein von Herzen kommendes Mitleid mit einhergehenden fast schon liebevollen Gute-Besserungs-Wünschen geäußert hat, gleich noch 10 Cent mit auf den Weg geben, könnte ich zur Zeit jede Bestrebung zum Geldverdienen getrost ad acta legen. Von allen Seiten regnet es Schulterklopfer (natürlich sehr vorsichtig, ich könnte ja spontan in alle Einzelteile zerbröseln), freundliche Zunicker und helfende Hände, wo immer ich sie theoretisch brauchen könnte. Gleich drei Männer und Frauen unterschiedlichsten Alter stunden auf, als ich mich in den Bus begab, damit ich mich hätte hinsetzen können.

Im Bus blieb ich lieber stehen und auch meinen Rucksack trug ich die Treppen eigenmächtig hinauf. Ich verwende keine Lifte und halte mich ganz an den Hinweis des überaus fürsorglichen Physiotherapeuten, der mir meine Schiene und meine Krücken angepasst hatte: Jeder Stoß, jeden zunehmend weniger mühseligen Schritt, den ich auf meinen Gehhilfen tätige, fördert die Heilung. Tritt dem Bein, so in meiner Vorstellung, gewissermaßen freundlich in den Allerwertesten und drängt mit liebevollem Nachdruck: "Mach mal hinne, Frauchen braucht dich!" Um auch nur vorübergehend meinen "Krüppelbonus" zu nutzen, bin ich erstens zu stolz und zweitens zu stur. Ich werd schon wieder.

Die Hilfestellungen an sich nehme ich zwar (trotz ehrlich empfundener Dankbarkeit) nicht an, aber sie freuen mich in unerwartetem Maße. Mitleid war bisher etwas, das ich ungefähr so schätzte wie einen gebrochenen Hax, doch nun, da beides eingetreten ist, ist es einfach schön zu sehen: Es ist den Leuten nicht wurscht. Sie sehen nicht auf mich herab, sondern verhalten sich eher wohlwollend und bekräftigend. Insgesamt empfinde ich noch mehr als sonst ein Gefühl, das wohl nun pathetisch formuliert klingt, aber der Wahrheit entspricht: Man ist und ich bin auf dieser Welt nicht allein. Nie.

Die zweite Erkenntnis: Wer immer glaubt, alleine zurecht zu kommen und sich komplett auf Arbeit, Sport oder was auch immer stützen zu können, irrt meiner recht frisch aktualisierten Meinung nach gewaltig. Was haben sich meine Prioritäten geändert. Neben meinen liebevollen Eltern gibt es da einen ganz besonderen Menschen, der mir mehr half, hilft und überhaupt in allumfassenderem Maße helfen kann, als ich es je für möglich gehalten habe. Er ist bei mir und das allein scheint mir einerseits Superkräfte zu verleihen und andererseits beruhigend klar zu machen, dass ich diese gar nicht brauche. Seit der kurzen Zeit, die ich mit ihm teilen darf, finde ich mich immer häufiger eine bestimmte Textstelle in einem zugegebenermaßen recht kitschigen Lied summend. "I found a reason for me to change who I used to be. A reason to start over new. And the reason is you."

Ein gebrochener Hax als Impuls für einen Neuanbruch im Leben. Eigentlich eine schöne Metapher.

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