Mal waren das schmollende Miezekätzchen, mal von Privatpersonen initiierte Covers von beliebten Liedern, dann wieder die Serie von mehr oder minder witzigen Posts eines selbsternannten Komikers auf Facebook. In einem aktuellen Fall handelt es sich um den Mitschnitt des Auftritts von Julia Engelmann, Psychologiestudentin und Ex-Darstellerin der RTL-Soap "Alles was zählt". Es ist ein sogenannter "Poetry-Slam"-Auftritt, sprich eine Reihe von aneinanderklebenden und möglichst wohlskandierten Worten, die gemeinsam fast schon dem Rhythmus eines Musikstückes wiedergeben sollen. Nicht etwa der Auftritt ist neu, der war bereits im Frühling 2013. Nein, neu ist der frische Wirbel, der nun um das Video und drumherum gemacht wird.
Grundsätzlich mal finde ich den Auftritt nicht schlecht. Mutig stellt sich das blonde Mädl vors Mikrofon und spricht klar, mit ruhiger, dunkler Stimme, während man ihr das aufgeregt pulsierende Herz dennoch an der Nasenspitze ansieht. Gerade am Anfang noch ein wenig zittrig, fängt sie sich, und man möchte sie einmal ganz fest drücken und ihr auf die Schulter klopfen. Mal hebt sie die Arme und ein bisschen schütteln sie (wohl auch aus Nervosität) mit ihren skandierten Sätzen mit, doch ihre Performance kommt beruhigend und erfrischend zugleich ohne große Körperartikulation aus. Dafür mal, in Facebooksprache, ein Like.
Aaaber... Was redet sie eigentlich? "Ich würd gern so vieles tun. Meine Liste ist so lang. Aber ich werd eh nie alles schaffen, darum fang ich gar nicht an", sagt sie gedankenvoll und setzt bald nach: "Lass uns Nachts lange wach bleiben, aufs höchste Hausdach der Stadt steigend, lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen. Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen..." und so geht es weiter. Klingt schon schön, klingt sehr gehaltvoll. Aber irgendwie spricht sie damit genau etwas an, was mir schon seit einiger Zeit tierisch auf den Senkel geht.
Eine Freundin und Kollegin schrieb auf das auf Facebook kursierende Video den Kommentar: "Was man nicht immer alles TUN muss!!!" Recht hat sie, finde ich. Da ist man dabei, seinen Alltag zu meistern. Geht obligatorischen Verpflichtungen nach, pflegt den Kontakt zu Freunden und Familie, betreibt seine geliebten, wenn auch vielleicht mittlerweile nicht mehr ganz frischen und neuen Hobbys und denkt vielleicht mal über den nächsten Urlaub, die nächste Reise nach. Und das soll dann leer sein? Zu wenig? Wie ein langer Spaziergang immer am Fluss entlang erscheint dieser Alltag manchmal sehr eingängig und fast schon trostlos, im nächsten Moment aber lieben wir genau das: Diese geordnete Routine, die wir uns ausgesucht haben und in der wir glücklich sind. Und in der wir überhaupt erst fähig sind, kleine Details wahrzunehmen, die im Strudel von aufgeregten Ereignissen ganz untergehen würden. Diese süßen Haubentaucher zum Beispiel, eine Vogelsorte, die mir erst sehr spät an den Ufern der Salzach aufgefallen ist. Aber zurück zum Thema.
Aufs höchste Dach steigen also. Die Nächte lang aufbleiben. Wurscht jetzt, ob man um spätestens 7 Uhr aufstehen muss. Dieses "Oh ich muss jetzt was erleben, dringend und zwar viel!" lässt sich anhand vieler Symptome ausmachen. Da wären die dutzenden Fotos von scheinbar unendlich witzigen und aufregenden Aktivitäten, die manch Facebook-Kumpane fast stündlich liefert. Wahlweise an einem Strand oder auf einer Party. Am besten beides. Da wären auch die vielen Storys über Weltenbummler und Lebenskünstler, die uns mehr faszinieren als alles andere.
Was passiert? Man fühlt sich blöd. Langweilig. Grau. Alles was man grad noch toll fand (spazieren gehen, Sims spielen, abends die neue Lieblingsserie kucken) erscheint einem plötzlich nur noch lächerlich. Fast schon verzweifeln könnte man bei dem Gedanken, dass aus all diesen geliebten aber leider langweiligen Tätigkeiten wohl nie genug kuriose Geschichten für die Enkelkinder hervor gehen werden. Oder für die Memoiren oder so. Alles nur weil man noch nie auf ein Dach gestiegen ist, schon gar nicht aufs höchste. Und nachts lieber schlafen möchte.
Ist es das wert? Der Wohlstandsgesellschaft zuliebe ins eigene Leben reinreden zu lassen und alles, was man tut, als nicht spannend genug zu befinden? Man kann ausprobieren. Warum auch nicht. Die Grundaussage von Julia Engelmann könnte ja auch als ein "Schau, was du nicht alles machen kannst" interpretierbar sein. Von daher sehr schön. Wären da nicht die mahnenden Worte ihres Refrains: "Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können." (Ursprünglich aus einem (tollen tollen tollen weil schööönen) Song des Künstlers Asaf Avidan)
Und wenn man am Ende aller Tage sagen kann: "Man kann viel machen. Ich habe nur ein bisschen was davon gemacht. Hat auch gelangt. War schön." Reicht das nicht? Ich glaube: Mir schon.
Julia Engelmanns Auftritt: http://www.stern.de/panorama/slammerin-julia-engelmann-dieses-video-koennte-ihr-leben-aendern-2083645.html
Das Lied: http://www.youtube.com/watch?v=KRAMNWzfjcg&list=PLfv--IKszaTt8uBAOQKGUZ2_ohIQcMDoQ