Samstag, 4. August 2012

Was ist schon Unvernunft?

Neulich laß ich einen Artikel zum Thema "Sind wir zu vernünftig?". Der Titel hat mich sehr neugierig gemacht und mit einer gewissen Erwartungshaltung machte ich mich ans Lesen. Denn genau diese Frage habe ich mir gerade in letzter Zeit des öfteren gestellt.

Doch ich war erstaunt. In dem zwar gut geschriebenen Artikel ging es inhaltlich recht einseitig zu. Zum Thema unvernünftiges Verhalten, das als erstrebenswert geschildert wurde, war letztlich primär eins im Vordergrund: Essen. Ich weiß nicht, wer den Text geschrieben hat, doch es war offensichtlich jemand, der sich von Diätregeln und Ernährungstipps im Alltag recht kasteien lässt. "Endlich mal wieder ein Hanuta", "Schokolade statt Obst", waren sehnsuchtsvolle Seufzer, die in den Worten durchklangen. Fast schon konnte man die Gelüste auf Kalorienbomben durch das Papier hindurch schmecken.

Klar, Ernährung ist definitiv ein Thema, das sich heutzutage viele (viel zu) wichtig nehmen. Es soll nicht nur gesund, es soll auch kalorienarm und frei von jeglichem Geschmacksverstärker und Konservierungsstoff sein. Es sollte natürlich und vielseitig sein, am besten gleich bio und reich an Nährstoffen. Functional Food. Man kann sich wirklich reinsteigern in das, was, könnte man meinen, doch eigentlich primär der Sättigung und dem Genuss dienen soll.

Zu vernünftig. Schuldig im Sinne der Anklage

 

So, bevor ich jetzt selbst genau zu dieser kulinarischen Thematik ausschweife, komme ich mal auf den Punkt. Denn ursprünglich sollte es im oben erwähnten Artikel laut Titel doch darum gehen, auch mal unvernünftig zu sein.
Wir stehen morgens auf, haben eine mentale To-Do-Liste im Kopf, die wir Stück für Stück den Tag über abhaken. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen die Leute damit, entweder sinnvolle Tätigkeiten zu absolvieren oder sich über deren Sinnhaftigkeit Sorgen zu machen. Zweifel dominieren den Alltag, Pflichtbewusstsein wird als Vorwand genommen, um nicht zu überlegen, was man denn eigentlich WIRKLICH tun möchte. Ist es Angst, von der Norm abzuweichen? Sorge, am Ende mit leeren Händen da zu stehen, weil man einmal nicht einem Ziel nachgerannt ist?
Indirekter Vorwurf im Text: Im Leben der Menschen dominiert die Arbeit. Der Lebenslauf des Durchschnittsbürgers ist fest in der Hand von Vernunft-geprägten und wohl durchdachten Entscheidungen. Studium und Ausbildung auf Kosten wilder Jahre in zügelloser Freiheit. Überstunden und disziplinierte Arbeit auf Kosten eines freischaffenden Künstlerdaseins ohne viel Geld aber auch ohne Zwänge. Wir sind einfach zu vernünftig, so die Quintessenz des Artikels.

... weil Menschen halt so sind?

 

Ich stelle jetzt mal eine waghalsige These auf: Ich glaube, letzten Endes MÖCHTE der Mensch einfach sinnvolles tun. Er möchte gebraucht werden, Aufgaben erledigen, sich gut fühlen, weil er etwas getan hat. Die Erziehung ist schuld, sagen die einen. Die anderen führen es auf die Leistungsgesellschaft zurück. Ich behaupte: Es ist schlicht und ergreifend Evolution. Mal im Ernst, können Sie sich vorstellen, dass sic Steinzeitmenschen früher sich sorgten, aufgrund pausenloser Bisonjagd und zu wenig Quality-Time beim Beeren-Sammeln möglicherweise einen Burnout erleiden zu können? Dass sie wegen der lästigen Familienpflege einfach zu wenig zur Höhlenmalerei kämen?

Klar, wir sind keine Steinzeitmenschen mehr. Unsere Gehirne sind weiter entwickelt (bei den meisten zumindest), unsere Wünsche definierter und unsere Ziele und Sinnkonstruktionen komplexer. Daraus jedoch gleich zu schließen, dass sich unser grundlegendes Wesen verändert hat, ist möglicherweise so nicht richtig. Noch immer sind wir, so meine These, dafür gemacht, sinnvolle Aufgaben zu erledigen.
Und das ist nicht eigentlich meine These. Der Begriff Eudaimonismus stammt schon von Aristoteles und grob gesagt formuliert er genau dieses Glück, das aus der Pflichterfüllung resultiert. Das gute Gefühl, ordentlich gearbeitet und etwas geschafft zu haben.

Das lässt sich ausweiten. Wir ernähren uns möglicherweise nicht deswegen von gesunden Dingen, weil wir zwanghaft vernünftig sind. Wir tun dies, weil wir unserem inneren Drang folgen, Sinnvolles zu leisten. Dass das auch auf die Ernährung greift ist wohl auf den heutigen Wissenstand und das Bewusstsein des Menschen zurückzuführen, den Körper lange fit halten zu wollen. Auch Ziele wie Schlankheit, schönem Äußeren (letzten Endes Attraktivität), könnte man so durchaus als Strategien der Partnersuche deuten. Ich glaube eben nicht, dass Vernunft automatisch unglücklich macht. Es mag unterschiedliche Menschentypen geben, aber die Gefahr, bei allzulanger Untätigkeit oder zuviel Freiheit in ein Loch zu fallen scheint, angesichts Fallbeispielen Arbeitsloser und gefallener Hedonisten, durchaus ein reelles Szenario zu sein.
 

Bloß nicht peinlich sein?

 

Soweit so gut. Und wie war das jetzt mit der unglücklich machenden Vernunft, dem Übermaß dieser?
Nun, es gibt da ein paar Regeln in der Gesellschaft, die fragwürdig sind, weil der Sinn dahinter eher im Verborgenen bleibt. Nicht auf den Straßen tanzen, zum Beispiel. Nicht singen, nicht zu laut lachen. Nicht unüberlegt einmal einfach einen Freund besuchen, einen Spontanausflug machen. Nicht alleine auf die Tanzfläche, schon gar nicht als Erster. Nicht wild über die Wiese rennen und sich dann mit klopfendem Herzen einfach fallen lassen. Es gibt soviele davon. Bloß nicht auffallen! Könnt ja peinlich sein.

Einfach mal rumspinnen: endlich frei sein

 

Das sind die Regeln, die wirklich kasteien, meiner Meinung nach. Es sind Scheuklappen und Handschellen für ein munter auf und ab springendes Herz, das einen eigentlich zu wilden Freudensprüngen motivieren wollte. Das einen dazu bringen wollte, lauthals das Lieblingslied aus dem iPod mitzuträllern oder spontan der Frau auf der anderen Straßenseite mitzuteilen, wie unglaublich hübsch sie aussieht.
Manchmal sind es auch andere kleine Wünsche, die man übersieht, weil es eigentlich Wichtigeres zu tun gibt. Die süße Katze knuddeln. Den Sonnenuntergang bewundern. Noch ein bisschen länger schnuppern beim Duft der Bäckerei, an der man vorbeischlendert.

Sinnvolles leisten und trotzdem auch mal bescheuert sein. "Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen", formulierte es Udo Lindenberg. Ich denke nicht, dass man gleich aus "allen Zwängen" fliehen muss. Es reicht schon, spontanen Wünschen zu folgen. Übrigens auch, wenn einen dieser gegenüber eines verlockend fröhlich grinsenden Hanutas überkommt. Man muss sich weder Maßlosig- noch Hirnrissigkeit ergeben, um sich zwanglos und frei zu fühlen.

Wenn ich laufen gehe, sehe ich bestimmt oft aus, als hätte ich einen Sonnenstich erlitten. Ich springe, ich shake zum Beat, ich gestikuliere wild und mime leidenschaftlich mit den Lippen den Songtext meiner Lieblingslieder mit. Mir ist vollkommen klar, dass ich in diesem Moment absolut bescheuert aussehe. Und es ist mir egal. Ich nehme mir einfach die Freiheit, einmal wild zu sein und möglicherweise für nicht ganz dicht gehalten zu werden. "Unvernünftig" zu sein. Und frei.

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