Montag, 29. Dezember 2014

Die Besten


„Ich trinke auf alte Freunde...“, so oder so ähnlich beginnt der Refrain eines bekannten Böhse-Onkelz-Lieds. Die nun durchaus in die Jahre gekommenen Onkel kann man finden, wie man möchte – diese Worte sind denkbar wahr. Ich habe das jüngst am eigenen Leib erfahren. Es war Weihnachten.

Das Seltsame ist: Wenn ich ehrlich bin, denke ich zwar hin und wieder an früher und die damit verbundenen Menschen. Wirklich vermissen tue ich aber nicht. Nicht, weil ich sie nicht ehrlich lieb habe und schätze, sondern weil das Leben nun mal anders spielt. Da gibt es einen Haufen Arbeit zu erledigen, da will ich noch joggen und schwimmen gehen und bevor der Tag rum ist, bleibt noch ein bisschen Zeit für den Hausputz, die Spülmaschine und den Herzallerliebsten. Und wo ist da die Zeit zum Vermissen? Eben.

Wir trafen uns in einem italienischen Lokal, es war verglichen mit vorhergehenden Jahren eine deutlich dezimierte Zahl. Auch das scheint ein deutliches Zeichens des Alterns zu sein – klar, nicht nur ich habe mit zunehmend fortschreitendem Lebensstatus meine eigenen Pläne, auch die anderen haben sie. Ein paar haben doch den Weg am 23. Nnach Ebersberg gefunden. Und da hat es mich ein bisschen überschwemmt, dieses Gefühl der Wiedersehensfreude.

Es begann damit, dass mich meine allererste beste Freundin von der Haustür abholte – schon das ein altgewohntes Ritual. So hatten wir es Jahrelang gemacht, um gemeinsam zu Grundschule, Gymnasium oder zum Fortgehen zu stiefeln. Wir waren beide nicht die Helden der Pünktlichkeit, und immer wenn die eine unpünktlich war, war es der anderen grad furchtbar eilig – so implizierte dieses Verfahren einen ganzen Haufen Konfliktpotenzial. Wir haben uns auch durchaus oft gerauft, wie Mädchen das eben tun. Ohne Haue, dafür mit Sticheleien und ab und zu wutentbrannten Schreien. Um Pferdedeckchen eines Plastiktieres, darum, wer Nala beim Rollenspiel sein darf und manchmal halt auch einfach so.

Vielleicht ist das das, was eine echte Freundschaft ausmacht. Oder zumindest: Wenn sie es aushält, dann ist sie echt gut. Denn ich habe mich mit der überwiegenden Mehrheit meiner richtig guten alten Freunde eigentlich nicht gezofft – oder kann mich nicht erinnern. Wie ich sie alle in den Arm nahm, wie sie da im Italiener schon auf uns warteten, freute ich mich viel mehr, als ich mir das vorgestellt hatte. Auf einmal schien mir wieder alles möglich. Wir würden zusammen den Mond erobern können, oder zumindest die Welt – so wie einst mit dem Radel quer durch die Umgebung unserer bildschönen Heimat. Und früher war gar nicht mehr so weit weg. Vielleicht sollten wir bald mal wieder fortgehen, mit schief gezogenem Eye-Liner, zu viel Wimperntusche und Push-Up-BH?

Nein, Scherz, solche Aufreißer respektive Tussis waren wir eigentlich gar nicht. Wir waren mehr auf Wein- und Bauernfesten unterwegs denn in noblen Münchner Clubs. Die Pampa rund um uns herum hatte es so an sich, hier und da mal ein großes Bierzelt aufzustellen und dort nebst traditioneller Heimatmusik auch mal die Musik, die in den letzten zehn Jahren hip war, zu spielen. Wir genossens und tranken Malibu Kirsch und Wodka-O dazu.

Bevor ich jetzt noch von durch besagte wenig kultivierte Gegenden getragenen Bierkästen anfange, komme ich wieder zur Sache. Auch wenn wir heute eine Maracuja-Saftschorle den dürftig gemixten hoch alkoholischen Getränken von damals vorziehen: Die Freunde von daheim sind doch die allerbesten.

Montag, 15. Dezember 2014

Die verstoßene Strumpfhose

Ich habe da so eine Strumpfhose. Sie ist alt, ihre früher strahlend "lilane" Farbe ist längst irgendwo in den Abgründen der Waschmaschine verschwunden. Früher war sie mal dick und flauschig, jetzt ist sie dünn und leicht. Früher ein beliebter Begleiter zu festlichen Anlässen (sie ist eine ganz feine Dame, aus Kaschmir und von Falke), verbringt sie nun ihren Lebensabend auf eine ganz andere Weise: Sie ist meine Lieblings-Über-die-Radlhosen-zieh-Hose. Denn jetzt wo es draußen zwischen 0 und 3 Grad hat, hat sie genau die perfekte Konsistenz, um meine Waden zu wärmen.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Tja, also die Sache ist die: Die Strumpfhose hat noch ein anderes Manko. Sie hat ein Loch. Mitten am Hintern. Bevor jetzt wilde Spekulationen starten, werfe ich es gleich vorweg: An dem Loch war früher ein Etikett. Ich hasse Etiketten, so fühlte ich mich bemüht, es restlos zu entfernen, was leider nicht ohne Folgen blieb für das arme lila Geschöpf. Und jetzt ist da eben ein Loch, wo einmal das Etikett war. Früher hat man das Loch nicht gesehen, da ich die Strumpfhose schließlich UNTER Rock und kurzer Hose trug. Nun kommt sie über die Radlhose – und das Loch entblößt nicht etwa nackten Hintern sondern schlichtweg ein schwarzes Stück Polyamid-Elasthan-Gemisch.

Die Menschen um mich rum zeigen sich dennoch pikiert. Als mich neulich eine ältere Dame im Pelzmantel darauf ansprach, ich hätte da ein Loch, und ich ihr daraufhin strahlend berichtete: "Ja, ich weiß, das zieh ich immer über meine Radlhose an", war ihre Reaktion nicht "Ah, natürlich, wie konnte ich das übersehen!" sondern ein Paar überaus skeptisch hochgezogene Brauen. Ich hielt sie für dämlich und eitel und versuchte anschließend meinen Ärger über sie hinfort zu strampeln. Auf einmal hatte ich das Gefühl, ein Straßenpenner oder ein Drogenjunkie zu sein. Vielleicht beides.

Dann war eine Weile Ruhe. Ich strampelte in alle Herren Richtungen, genoss die Sonne, den Wind und den Bergblick und dachte an nichts Böses. Dann kaufte ich im Supermarkt meines Vertrauens ein und wie ich an der Kassa stand, erhob sich meine Lieblingsverkäuferin auf einmal von ihrem Stuhl. Sie kam auf mich zu. Ich war verwirrt. Da nahm sie mich beim Arm und flüsterte mir ganz ganz leise ins Ohr: "Du, du hast da ein Loch! Am Popo!" Plötzlich fühlte ich mich erneut vom Pein geplagt. Meine Erwiderung "Ja ich weiß, die trage ich immer über meiner Radlhosen" klang schon deutlich schwächer.

Zuhause sah ich mich im Spiegel von hinten an. Ja, ein kleines Loch am Popo, stimmt schon. Aber doch über der Radlhosen. Mein Hintern ist ja wohl kaum schwarz. Jetzt frage ich mich: Soll ich so eine schöne Strumpfhose wegwerfen, die genau jetzt die perfekte Konsistenz erreicht hat, um mir noch viele Monate, vielleicht sogar Jahre, einen treuen Dienst zu erweisen? Ich will sie nicht auf Business-Meetings und Hochzeiten tragen. Es geht doch nur um meine geliebten Stunden alleine, nur mit mir und meinem Radl-Ross. Und gelegentliche Abstecher in den Supermarkt.

Fast schon treibt mich das Sujet zu einer viel übergeordneteren Frage: Muss man sich dann anpassen, wenn alle sagen, dass etwas nicht richtig ist? Oder kann man so weiter machen, wenn man ganz genau weiß, dass man bestimmt niemandem weh tut und sich alles ganz locker flockig anfühlt?

Neulich hatte ich dann eine schwarze Leggins über der Radlhosen an. Ohne Loch versteht sich. Die lila Strumpfhose blickte mich traurig an und fragte: "Wirklich? Wegen denen?" Und ich kann ihr gerade keine Antwort geben. Ich muss darüber nachdenken.

Sonntag, 7. Dezember 2014

Alle Jahre wieder...

Hurra, die Weihnachtszeit ist wieder da. Mit ihr ziehen leuchtende Sterne, Rentiere und Nikoläuse in jeden einzelnen Winkel Salzburgs. Selbst Industriegebiete erwärmen sich neuerdings für Lichterketten hier und da – klar, auch Ingenieure und Bauarbeiter haben schließlich ihre Bedürfnisse. Der Christkindlmarkt hat wie jedes Jahr vorsorglich schon gefühlt Anfang Oktober, tatsächlich Mitte November Einzug gehalten, damit schon viele Wochen vor dem eigentlichen Fest ordentlich Glühwein gebechert und entsprechend Geld auf den Kopf gehauen werden kann. Hachja, alle Jahre wieder.

Mit der herrlichen Weihnachtszeit kommen auch die vielen lieben Touristen in unsere schöne Stadt. Höchstwahrscheinlich sind es zu dieser Zeit mehr als zur berühmten Festspielzeit – denn während Mozart und Jedermann ein eher erlauchtes Publikum ansprechen, erfreut sich Weihnachten in unseren Breitengraden doch einer recht allgemeinen Beliebtheit. Kinder, die noch zu klein zum Selber-Entscheiden sind und eher unwillige Gatten werden da bei Widerworten ganz einfach mitgeschleift.

Da sind sie nun, die Heerscharen an Touristen. Die, die schon mal mit dem Auto da waren, begehen den Fehler selten ein zweites Mal. Stattdessen reisen sie mit der Bahn an. Doch seltsam: Man fällt tatsächlich nicht vom Bahnhof direkt in den Christkindlmarkt hinein – man muss sich entweder im verqueren Busnetz zurechtfinden oder den Weg zu Fuß finden. Beides eine komplizierte Angelegenheit, wie es scheint. Nicht selten picke ich arme Gestrandete irgendwo in Schallmoos oder Itzling auf – meilenweit weg vom Ziel.

Wenn sie sich dann auf dem richtigen Weg befinden, müssen sie sich oft furchtbar ärgern über die Salzburger Einheimischen. Dass das mitnichten freundliche Menschen sind, sondern vor sich hin grummelnde und nicht gerne Auskunft gebende Grantler, das mussten schon viele arme Touristen feststellen. Besonders jene, die sich auf einem Fahrrad fortbewegen, gelten als mit Vorsicht zu genießen. Sie bleiben nie stehen, sie steigen erst recht nicht ab und wenn es sein muss, fahren sie einen schon mal über den Haufen. Natürlich nicht ohne mit wutverzerrtem Gesicht düstere unverständliche Schwüre von sich zu geben.

Ok, ich geb's zu: Ich bin der Radlfahrer. Über den Haufen gefahren habe ich aber noch niemanden. Nur werde ich an Weihnachten, wenn die Brücken, Straßen, Gassen und eigentlich alles was sich im vagen Umkreis der Innenstadt befindet mit Touristen vollgestopft sind (erkennbar an den Fotokameras, asiatischen Gesichtern oder hochdeutschen Sprache), ganz besonders oft ermahnt und in meine Schranken gewiesen. Beispielsweise wenn ich mich erdreiste, auf dem Fahrradweg zu fahren und zu klingeln, wenn jedes einzelne Familienmitglied bei seinem Marsch geschätzte drei Quadratmeter für sich beansprucht und damit den eigentlich sehr breitangelegten Weg komplett versperrt.

Es gibt aber auch sehr nette Touristen. Sehr gerne zeige ich anderen Besuchern, kennengelernt über die Plattform "Couchsurfing.org" meine Wahlheimat und führe sie zu den Plätzchen, die mir persönlich am besten gefallen. Aber manchmal wäre andersrum ein bisschen Rücksicht auf und Nachsicht für die Einheimischen wirklich schön. Zum Beispiel wenn man es im Gegensatz zur bummelnden Besucherschaft gerade sehr eilig hat. Dankeschön.

Samstag, 29. November 2014

Arme Generation Y?

Also, ich muss jetzt mal ein Wort für meine Leute einlegen. Meine Leute, das ist die mittlerweile verschrien-bekannte Generation Y. Per Definition all jene Menschen, die zwischen den 70ern und bis in den Anfang der 90er Jahre hinein geboren sind. Mit meinem Geburtsdatum darf ich mich zu dieser ominösen Gruppe zählen.

In einem jüngst publizierten Artikel in der Welt doziert ein Hobbyphilosoph anhand vieler hübscher Bilder, weshalb ich und meine gesamte Generation "so unglücklich sind". Gut, dass sich da mal einer äußert. Bis dato war mir nämlich gar nicht bewusst, dass wir so unglücklich seien, geschweige denn warum. Der Autor kam jedenfalls zum Schluss, dass wir uns eine bunte ekstatisch florierende Blumenwiese wünschen, jedoch entgegen unserer Eltern nicht bereit sind, für diese zu arbeiten und sie uns selbst zu verdienen. Stattdessen solle uns bitte alles ins offene Maul fliegen.

Hinsichtlich der Frage, woraus diese bunten Blumenwiese für jeden Einzelnen von uns besteht, ist der Autor überzeugt: Eine himmelhochjauchzende Karriere inklusive Glanz und Gloria. Ich stelle nun eine gewagte Hypothese auf: Das ist Bullshit. Mit einem mag der Autor vielleicht Recht haben: Viele von uns wollen kein langweiliges Mittelmaß, sondern etwas erleben. Spannung, Spaß und vielleicht noch Schokolade.

Dank der zumindest in unseren Breitengraden verwöhnten Kriegs-befreiten Wohlstandsgesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, müssen wir nur noch aufgrund selbsterlegter No-Carb-Kasteiungen um unser täglich Brot bangen und können uns auf tiefere Lebenssinne und, ja, höhere Wünsche einlassen. Als Regenbogen-speihende Einhörner stellen die anrührenden Grafiken im Artikel diese Wünsche dar. Aber wer sagt denn a) dass das eine beispiellose Karriere sein muss, die mich berühmter als Angela Merkel und Miley Cyrus zusammen macht, und b) dass ich mein kotzendes Einhorn nicht schon gefunden habe?

Ich schaue mich um und muss sagen: Eine verzweifelt, blind nach unrealistischen Hoffnungen strebende Generation sieht für mich anders aus. Da ist die eine Bekannte, die von Timbuktu, nach Thailand, nach Australien und wieder zurück reist und dabei das tut, wovon sie schon als kleines Mädchen träumte: Die Welt erkunden. Das Geld dafür verdient sie sich hart beim Kellnern. Das ist es ihr wert. Wann immer ich sie treffe, wirkt sie sehr ausgeglichen und glücklich.

Ich sehe eine alte Schulfreundin, die Lehrerin wird und derzeit ihr Referendariat absolviert – auch sie ist happy, sie sagt, sie hat eindeutig den richtigen Beruf gewählt. Immer mehr kriegen auch langsam Kinder. Die scheinen ziemlich müde aber auch ziemlich erfüllt zu machen. Überhaupt kenne ich mehr Gleichaltrige mit abgeschlossenen Ausbildungen und glücklich stimmenden Jobs und/oder Familien, als jene Sinnsuchende und faule Kollegschaft, von der der Autor berichtet.

Vielleicht meint der Autor, dass wir uns alle selbst belügen und in Wahrheit ganz was anderes wollen. Nun, dann und wann liebäugelt man sicher mal mit einer anderen Realität, einem Abenteuer. Ich frage nur: Wer tut das bitte nicht? Wer weiß denn, ob sich nicht auch vorangegangene Generationen ganz tief drinnen ab und an nach mehr gesehnt haben, als das, was sie ihr Tagwerk nannten?

Aber wir wollen ja nicht so sein. Man darf Hobbyphilosophen schließlich nicht ihr Lieblingsspielzeug wegnehmen: Über unsere arme Generation Y zu sinnieren.

Montag, 20. Oktober 2014

Mysterium Mensch

Wenn es etwas gibt, über das ich mich vermutlich für immer wundern werde, dann ist das: Der Mensch. Eben noch ist mir ein Radlfahrer hineingefahren und lässt mich am Boden liegen während er hastig seinen Weg verfolgt. Da steht schon eine andere junge Frau bei mir, reicht mir die eine Hand und umarmt mich mit der anderen. "Hast du dir weh getan?", fragte sie und ich überlegte, vielleicht auch aus einem akuten Schockzustand heraus, ob das vielleicht ein Engel war.

Ich gehöre zu der Gattung Mensch, die man, meint man es nett mit ihnr, als sensibel bezeichnet. Die anderen nennen es einfach Weichei und Drama-Queen, überempfindlich und viel zu dünnhäutig. Auch ich würde eher eine negativ gefärbte Variante wählen, denn, um es kurz zu fassen: Das Leben ist nicht einfach als Sensibelchen. Ständig sind irgendwo Schwingungen, Tonfälle und gehobene Augenbrauen, die außer mir anscheinend niemand sieht. Aber sie sind da und sie versprühen einen Vibe! Die Menschen senden Signale aus. Und man selbst schaukelt in einem Boot, das sich von einer Welle zum nächsten Tief treiben lässt, sich hebt und senkt mit den Äußerungen und Gefühlen der Menschen um einen herum. Nur dass ich das Gefühl habe, den Menschen selbst ist ihr eigener Vibe oftmals nicht bewusst.

Mein Herzallerliebster bezichtigt mich sehr charmant des Öfteren, es läge vielleicht an mir, dass mir so seltsame Dinge passieren. Ihm jedenfalls passiere sowas nicht. Im einen Moment unterhalte ich mich lachend mit einer wildfremden Person und fühle mich zu ihr verbunden wie das frühlingsknospende Blatt zum Baum. Dann wieder werde ich fies von der Seite angefahren (wörtlich oder im übertragenen Sinne), beschimpft und/oder belächelt. Natürlich, es gibt einfach depperte Menschen auf der Welt, die sich in der bitteren Realität einfach nur in ihrem eigenen Elend suhlen und wenn sie schon dabei sind gerne noch ein paar Menschen mit hineinziehen möchten. Aber trifft das wirklich auf alle notorischen Aggressoren zu?

Ja und solche Erlebnisse lassen mich immer verwundert im Gang stehen: Ist der Mensch nun schlecht oder gut? Ich trage einen unanfechtbaren Grundoptimismus in mir, von daher glaube ich, ob ich will oder nicht, ob mir das Gegenteil immer wieder vor die Nase gehalten wird oder nicht, an das Gute im Menschen. Dass am Ende eigentlich alle miteinander am Lagerfeuer sitzen und sich vertragen könnten.

Und dann passieren Kriege. Menschen schneiden anderen Menschen den Kopf ab. Legen Bomben, vergewaltigen Frauen, verstümmeln Männer. Die selbe Gattung Tier, die mir die Hand reichte, mich umarmte und mir das Gefühl gab, nun endlich im Himmel angekommen zu sein, befördert die Hölle auf irdischen Boden. Oder ist der Mensch ganz einfach die Hölle?

Ich glaube, deswegen faszinieren sie mich so, diese Menschen. Es sind eigenartige Strukturen, in denen sie sich bewegen und die sie formen, auch Gesellschaft genannt. Ist das Böse letztlich das, was diese Strukturen gebären, oder liegt es tief in jedem von uns verankert (wie es ja manch ein Kriminologe und Hobbydetektiv behauptet)?

Und dann kommt für mich die Mutter aller Fragen: Wenn ein kleines Kind in Not herzzerreißend nach seiner Mama weint, ein kleines Kätzchen um Aufmerksamkeit buhlt. Lässt das wirklich irgendwen kalt? Ich hoffe dass ich bis zum Ende meiner Tage daran glauben kann: Nein. Im tiefsten Herzen nicht.

Montag, 29. September 2014

Die Leiden des jungen Rauhaardackels

Ich wäre gern ein großer Hund. Einer, der mit klugen und beruhigend trägen Augen in die Welt sieht und den die Menschen schon aufgrund seiner Größe nicht dumm anmachen und respektieren. Einer, der gemächlich seines Weges schreitet, in der ruhigen Gewissheit, dass es nur sehr wenige gibt, die ihn angreifen würden. Leider muss ich sagen: Ich bin eher ein Rauhaardackel.

Wann immer ich etwas sehe, das mich reizt, fange ich an zu kläffen. Meiner nicht besonders tiefen Stimme geschuldet klingt das nicht wie das von mir angestrebte kräftige Bellen sondern wie das Gezeter eines kleinen Gnoms. Auch wenn ich auf viele Menschen einen ruhigen Eindruck zu machen scheine, muss ich mich hier als Choleriker outen.

Der Mann, der einfach mitten auf den Krauthügel mit seinem Münchner-Kennzeichen-Auto fährt, auf dem Weg, der links vom Naturschutzgebiet- und rechts vom Autos-Verbotenschild umgeben ist. Dem Kerl, dem es nichts auszumachen scheint, dass sich Mutter und Kind vor seinem Dobermann, der sie bellend und Zähne-fletschend begrüßt, zu Tode fürchten. Und, mein Liebling: Leute, die einem auf dem Zebrastreifen fast überfahren. Das macht mich sauer.

Und bin ich erstmal sauer, gibt es kein Pardon. Hätte ich (mehr) Haare, es würde sich aufstellen, mir einen Buckel verleihen und mich noch fieser und grimmiger erscheinen lassen. Meine Augen glänzen vor Wut, vorm Mund beginnt es zu schäumen. Ich schaRre noch kurz mit den Hufen und dann geht es auf ihn mit Gebrüll.

Ich komme aus gutem Hause, meine ich zumindest. So wird die primäre Wortwahl noch Begriffe wie "Ars**loc*, H*rens*hn" geflissentlich umgehen. Es beginnt meistens mit einem "Entschuldigen Sie, ist Ihnen eigentlich klar...". Mein Herzallerliebster nennt das das Deutschen-Gen. Vielleicht hat er Recht. Aber ich muss schon ehrlich sagen. Wenn jemand was nicht richtig macht, dann muss man doch was sagen.

Tja und es liegt in der Natur der Sache, dass man bei Konflikten wie mit dem seelenruhigen Dobermann-Herrchen und den Beinahe-Umbringern auf dem Zebrastreifen selten an angenehme Gesellen gerät, die auf den zunächst halbwegs freundlichen Hinweis mit Sätzen wie "Oh, ja, herzlichen Dank. Mensch, sowas blödes, hab ich doch nicht aufgepasst!" eingehen. "Hoit dei Mei" und "Geht di nix o!" sind da die weitaus häufigeren Varianten.

Schüchtert mich nicht ein. Im Gegenteil. Wenn ich das Feuer wäre, wäre das das Kerosin. Denn jetzt geht die Show erst richtig los. Ich werde zum Giftzwerg, spucke Gift und Galle, bin im Fall des Falles auch schonmal bereit, es jederzeit mit einer Schlägerei aufzunehmen. Spiderman, Catwoman, Herkules, alles Waschlappen. Jetzt komme ich!

Ja und da wäre ich jetzt wieder beim großen Hund und beim Dackel. Während Dackel des Öfteren dabei beobachtet werden können, wie sie sich kläffend und in finstersten Absichten bevorzugt auf jene Hunde stürzen, die fünfmal so groß wie sie sind, sieht man bei genannten großen Hunden meistens nur eins: Gelassenheit. Pf, was will der denn. Soll mal in Kindergarten gehen, der Kleine.

Da ich auch mindestens so verletzlich wie ein kleiner Rauhaardackel bin, würde es mir, so denke ich, also gut tun, mir von dem großen ruhigen Hund eine dicke Scheibe abzuschneiden. Denn soviel Spaß es auch macht, zu streiten: Das kostet verdammt viel Energie.

Die ich brauche, wenn mir mal wieder einer die Vorfahrt nimmt. Grrr.....

Dienstag, 9. September 2014

Warum ich Hippies mag

Neulich sah ich wieder eine von ihnen. Mit nackerten Füßen saß sie am Rande des Fußgängerweges an der Salzach, zwirbelte eine ihrer blonden Dreadlocks durch die Finger und las dabei ganz konzentriert in einem Buch mit buntem Umschlag. Ihre Beine waren angezogen, die viel zu große Baumwollhose flatterte im Flusswind.

Ich radelte an ihr vorbei und konnte gar nicht anders, als sie fröhlich anzugrinsen. Komplett versunken in ihrer Lektüre bemerkte sie mich nicht. Doch die mir entgegen kommende Dame, ebenfalls Radl, schätzungsweise Ende 50, fing meinen freudigen Blick auf, warf einen kurzen Blick auf das Dreadlockmädchen und erwiderte dann mein Grinsen. So grinsten wir uns an, als teilten wir ein gemeinsames Geheimnis.

Woher stammte es, das Grinsen? Was war das Geheimnis? Ich glaube es war schlicht und ergreifend: So sehr wir Hippies und ähnliche fleischgewordene Interpretationsformen manchmal belächeln, so beflügelnd und befreiend ist ihr Anblick.

Es ist doch so: Männer in Anzügen mit Aktenkoffern wie sie sie mit ernstem und gelangweilten Blick durch die Gegend tragen, sehen wir oft genug. Genauso das weibliche Pendant, das statt gerade geschnittener Hose vielleicht gerade noch so mutig ist, einen – das Knie natürlich bedeckenden – grauen oder dunkelblauen Rock über der anthrazitfarbenen Strumpfhose zu ziehen und mit möglichst lauten Stampfestöckelschuhen durch die Gegend zu jonglieren.

Ebenso der Einheitslook, den man in mittel- bis nordeuropäischen Breitengraden nun einmal gerne trägt. Funktionsjacken von Tchibo, die die Strickjacke respektive das weiße T-Shirt von C&A überdeckt, mitteleng geschnittene Jeans mit Gesäßapplikation, farblose Turnschuh oder Sandalen von Geox und dazu vielleicht noch ein möglichst wenig individuell designter Rucksack. Praktisch, einfach, komfortabel.

Nein, ich plädiere nicht dafür, dass sich jetzt alle zu Modepüppchen aufstylen, auf dass sich die Salzburger Innenstadt und Salzachwege zu einem semiurbanen Catwalk verwandeln. Erstens tut es das hier und da genauso – japanische und anderweitig asiatische Gäste lassen grüßen – zweitens ist auch das in meinen Augen kein befreienderer Anblick. Statt dem einheitlichen Businesslook ihres Arbeitsplatzes unterwerfen sich die neuschicken Stylo-People den aktuellen Modetrends. So angenehm kann dieser wie Quietscheplastik aussehender Minirock wirklich nicht zu tragen sein.

Da gibt es nur einen Menschenschlag, der mir mit seiner Kluft ein herzliches spontanes Lächeln auf die Lippen zaubert. Sie wandeln durch die Gegend mit unglaublich gemütlich aussehender Kleidung in Größen zwischen XXL und Zirkuszelt, tragen sämtliche vorhandenen Regenbogenfarben (am liebsten alle auf einmal), haben entweder kunstvoll gezwirbelte oder einfach nur ungekämmte Haare und strahlen schon von weitem aus: Es interessiert mich ehrlich einen Scheiß, was die anderen von mir denken.

Herrlich. Ich könnte diese Menschen abknutschen, jeden einzelnen Batik-tragenden von ihnen. Nicht, weil ich mich so gut mit der ursprünglichen Flower-Power-Bewegung auskenne und mich daher mit ihr assoziiere. In diesem Fall bin ich bei weitem nicht so tieftragend in meinen Assoziationen, dass ich Anti-Krieg und Pro-Marihuana mit in Erwägung ziehen würde. Hippie sein bedeutet nach meiner Auffassung einfach, ziemlich lässig und entspannt durchs Leben zu gehen. Mit locker sitzender bunter Kleidung bringen diese Menschen eine Lebensfreude zum Ausdruck, die ich bei grauen Über-Knie-Röcken und gerade geschnittenen Nadelstreifenanzügen schmerzlich vermisse.

Am liebsten hätte ich mich zu dem Mädchen gesetzt. Nicht um mit ihr über glutenfreie Kekse und die Banalitäten dieser Welt zu diskutieren, sondern einfach nur, um mir auch meinerseits die Schuhe und Socken auszuziehen. So wie sie den sonnigen Tag in diesem Moment zu genießen schien, hätte ich mir keine schönere Vergnügungsart vorstellen können. Dieses Mädl brauchte keinen St. Tropez-Strand, brauchte keinen Cocktail mit Schirmchen und auch keinen teuren Schnickschnack.

Vor allem brauchte sie auch kein ausfüllendes Tagesprogramm, keine zu erledigenden Pflichten, ohne die sich in dieser Sekunde schon leer und faul fühlen würde. Genauso wenig kümmerte es sie, wo sie vielleicht sonst noch sitzen könnte (in der Wiese, im Park, im Freibad). Hier und jetzt schien das Plätzchen auf der Promenade am Fluss attraktiv und sie ließ sich mit dem einzigen Gegenstand, den sie bei sich trug, nieder: Ihrer heißgeliebten Lektüre.

Ich gebe zu, vielleicht assoziierte ich in dieser Begegnungssekunde auch zu viel. Vielleicht wartete die junge Frau lediglich auf ihren Bus, der sie in ihre Arbeit befördern sollte (die Haltestelle ist nicht weit entfernt). Das Buch war vielleicht in Wirklichkeit ihre Studienlektüre, die sie insgeheim hasste, dass sie sich furchtbar konzentrieren musste, um es nicht in irgendein Eck zu pfeffern.

Aber ich glaube das nicht. An welche Arbeitsstelle würde man ohne Schuhe (denn die standen auch nicht neben ihr) und in Zirkuszelthose antreten? Nein, das Mädchen war genau das, was ich in diesem Moment in ihr sah: Die Freiheit in Menschengestalt.

Und deswegen mag ich Hippies.

Samstag, 6. September 2014

Kleine Herbstverliebtheiten

"Wake me up when September ends" heißt ein melancholisch-schönes Lied der bekannten amerikanischen Band Greenday. So gut mir das Lied gefällt, beim Text denke ich mir einzig und allein: Bloß nicht! Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass Jahreszeiten etwas herrliches sind. Kaum wird einem die Hitze des Sommers zu viel, beginnt das Klima schon wieder sanfter zu werden (ja, auch dieser Sommer hatte heiße Tage!). Und hat man den kalten Winter irgendwann satt: Der Frühling kommt bestimmt.

Nageln Sie mich nicht darauf fest, aber derzeit bin ich wieder der Meinung, dass der Herbst meine absolute Lieblingsjahreszeit ist. Denn, offizieller kalendarischer Herbstbeginn hin oder her, dieser ist ohne Zweifel bereits ins Land gezogen. Sehen tut man das an den Blättern, die jetzt wieder in gehäufter Form auf den Wegen liegen und sich, wenn noch am Baum befindlich, rot, rosa, lila färben. Doch das ist nur das Offensichtliche.

Noch viel mehr als bunte Blätter und laubbedeckte Wege ist für mich etwas ganz ganz anderes ausschlaggebend, um zu wissen, dass es nun Herbst ist: Die Sonne. Ich kann nicht mehr genau sagen, an welchem der letzten Tage es war, aber da gab es wirklich einen Aha-Moment. Denn auf einmal strahlte die Sonne nicht mehr übermütig heiß und Sommer-grell. Sie schien mehr zu leuchten und die Gegend, in meinem Fall den Leopoldskroner Weiher und den Krauthügel in Salzburg, in goldenes Licht zu tauchen.

Klingt kitschig? Stammt aber gar nicht von mir. Es war mein Vater, der mir immer vom goldenen Licht des Herbstes erzählte. Für solche Feinseligkeiten wenig zu haben, erklärte ich ihn im Teenageralter noch für übermäßig rührselig. Heute verstehe ich ihn. Denn das, was mich da von oben und von der Seite anstrahlt, ist weder gelb noch grell, sondern ganz klar: gold.

Vielleicht liegt es daran, dass die Tage kürzer werden und somit die Sonne vermehrt damit beschäftigt ist, auf- und unterzugehen. Auch die Sonneneinstrahlung wird sicherlich schwächer. Aber bitte fragen Sie mich nun nicht nach den genauen Gründen. Ich habe meine Recherchehausaufgaben, nachlässlich wie ich bin, in diesem Fall nicht gemacht. Es ist halt so: Richtung Winter ist es weniger warm und die Sonne strahlt halt nicht mehr so heiß. Punkt.

Ich will sowieso auf was ganz anderes hinaus. Ein Grund, warum ich Jahreszeiten so liebe, vermutlich sogar der Hauptgrund ist der, dass jeder einzelne Umschwung das innere Kind in mir hervorlockt. Jetzt im Herbst bedeutet das: Drachensteigen lassen! Durch das Laub laufen und schöne Blätter sammeln! Kastanien aufheben und Tiere daraus basteln! Dabei muss ich gestehen: Nichts davon setze ich tatsächlich um. Nicht, weil es mir peinlich wäre.

Es ist nur: Die Fantasie alleine reicht oft. Die spinnt sich von ganz allein durch meinen Kopf, während ich mit glasigem Blick und lachenden Augen durch die Herbstlandschaft spaziere. Durch bunte Baumalleen und goldenes Herbstlicht hindurch. Dann kann ich über diese Sätze "Wir müssen mehr den Moment genießen!" nur hochmütig grinsen. Das macht der Herbst doch von ganz allein.

Man muss nur mal spazieren gehen. Und unbedingt aufwachen BEVOR der September endet!

Samstag, 30. August 2014

Wer die Wahl hat...

"Ja also ich weiß nicht, was ich da jetzt sagen soll", sagte sie. Viel mehr sagte sie an diesem Nachmittag wirklich nicht. Dabei hätte ich für jedes Wörtchen, das mich einen Schritt weiter gebracht hätte, spontan meinen rechten Arm hergegeben oder zumindest ein fünfkugeliges Eis springen lassen. Ich hatte eine Person um Rat gebeten. Die Quintessenz die aus einem Gespräch, für das sie sich wirklich Zeit genommen hatte, resultierte: Das musst du selber wissen.

Ich. Selber. Ein Riesenblödsinn, wenn man vor einer Weggabelung steht, deren Schilder man selbst bereits mit so vielen Post-Its und Überlegungen behängt hat, das der tatsächliche Text auf ihnen gar nicht mehr zu erkennen ist. Ich meine, jeder kennt das doch. Ganz egal, ob es nun um den weiteren Verlauf der Karriere geht, um die Familienplanung oder auch nur scheinbar belanglose Alltagsangelegenheiten wie der Kauf eines neuen Wintermantels: Sich zu entscheiden ist echt nicht leicht.

Vielleicht gibt es so Menschen, die das Leben wirklich locker und von daher auch nahezu jede Entscheidung auf die leichte Schulter nehmen. So nach dem Motto "Hey, who cares, es gibt keine falschen Entscheidungen, nur verpasste Chancen". Wahrscheinlich leben die dann tatsächlich auch ein wahnsinnig cooles Leben, werden entweder zum glücklichen Hippie oder reich und noch ein bisschen fröhlicher auf der frisch erstandenen Yacht. Ich muss sagen: Fröhlich bin ich (meist) schon, aber Entscheidungen, die waren noch nie mein Ding.

Grundsätzlich weiß ich dabei eigentlich schon was ich will. Aber wenns dann darauf ankommt, und aufeinmal die Einladung zu zwei Partys in die Wohnung flatteren, die leider leider zeitgleich stattfinden, wirds furchtbar eng. Ich würde ja gerne auf meinen Bauch hören, nur leider erzählt der ganz oft einen Riesenhaufen Mummpitz. Weil er Schiss hat, der alte. Und weil er ohnehin sowieso nichts Neues mag. Würde heißen, ich dürfte mich nie auf etwas Neues einlassen. Klingt nicht unbedingt schlau, oder?

Also der Kopf, aber der Kopf ist manchmal angesichts einer überwältigenden Flut an Informationen auch relativ bis hochgradig überfordert. Denn es ist nun mal selten so, dass wenn es sich zwischen A und B zu entscheiden gilt, A schmutzig und dreckig, schal und etwas verschlagen grinsend dreinblickt und B einem freundlich die Hand gibt, einem bitte zu folgen, es würde einen garantiert glücklich machen. Stattdessen ist A absolut super, hat einen Haufen Vorteile, natürlich wie alles im Leben auch ein paar Nachteile. Und B schaut genauso aus. Längst hat der arbeitswütige Schädel alle Optionen durchgerattert und sämtliche Ausgangsmöglichkeiten analysiert.

Was fehlt, ist das Herz. Das hat sich inzwischen längst vollkommen eingeschüchtert zurückgezogen und zieht in Erwägung, sowohl A als auch B einfach sein zu lassen. Dem lieben Frieden wegen. Bitte nichts Neues und so. Das ist dann der Moment, in dem ich jemanden um Rat frage. Meine Eltern, meine Oma, meinen Herzallerliebsten, Freunde. Gibt ja genug liebe und anständige Menschen.

Und dann kommt es aber doch einmal zu Situationen, in denen man vor einem Problemknoten steht, den man bei bestem Willen nicht lösen kann. Genauer gesagt, ein Entscheidungsknoten. Je persönlicher das Problem ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man als Antwort von aufgeklärten, gebildeten Menschen nur das folgende zu hören bekommt: "Das musst du doch selber wissen." Nicht schnippisch, nicht böse, aber die vermeintlichen Tatsachen aussprechend. Man muss doch sein eigenes Leben selbst in der Hand haben. Oder?

Manchmal weiß man was aber nicht. Und wo geht man dann hin? Wie findet man raus, was passt und welcher der richtige Weg ist? Ich wünschte, ich hätte eine Pauschalantwort. Das, was der Bauch sagt, stimmt ja zumindest bei mir wie gesagt leider nicht. Viele positive Entwicklungen meines Lebens wären nicht so gelaufen, wenn ich nicht ab und zu die liebe Frau Verstand miteinschalten würde.

Nach "Das musst du selber wissen" kommt dann oft noch ein "Das wird die Zeit schon zeigen". Na ich hoffe es.

Samstag, 16. August 2014

Neulich im Irrenhaus

Von den Tücken einer Fußmassage


Pieks, stech, aua. Pünktlich zur Feierabendzeit stellte sich in meinen Füßen in letzter Zeit regelmäßig ein vorher unbekanntes nicht besonders feiermäßiges Gefühl ein. Ich wunderte mich sehr, da ich dort, wo auf einmal alles beleidigt und eingeklemmt vor sich hin wimmerte, wirklich nichts vermutet hätte, das beleidigt sein könnte: Der Fußsohle. Nackenschmerzen, klar. Muskelverspannungen am Rücken bei der übermütigsten Biegung meiner Skulioseträchtigen Wirbelsäule? Aber sicher. Aber die Fußsohlen??

Mein Herzallerliebster mühte sich bereits öfter ab, als ich mich traue zu gestehen und jedes Mal fühlte es sich danach wie der Himmel auf Erden an. Die beleidigten Füße waren offensichtlich keine Primadonnen, ließen sich schon nach fünf Minuten des intensiven Knetens und Rubbelns wieder besänftigen. Nur dass besagter Herzallerliebster irgendwann (nagut, verständlicherweise) grummelnd den Dienst quittierte. Er fühle sich ein bisschen dämlich, sagte er. An meine Füße käme ich doch schließlich wirklich selber hin.

Unnötig zu erklären, dass eine Eigenmassage nicht den erwünschten "Wie-eine-Katze-schnurrend-vor-sich-hintretel"-Effekt erzielt. Ich beschloss also, mein hart erarbeitetes Geld mal für etwas einzusetzen, das sicherlich in die Kategorie "Unnötiger Luxus" fällt (zumindest wenn man sich wie ich ansonsten, ich gestehe, in tadelloser Gesundheit wähnt): Eine professionelle Fußreflexzonenmassage. Fuß. Reflexzonen. Massage. Allein beim Namen floss mir das Mund im Wasser zusammen und meine Füße zuckten schon freudig in Richtung Bildschirm, an dem ich die Auswahl an Masseuren in meiner Umgebung nun genauestens inspizierte.

Ich entschied mich für eine Dame, die ich namentlich zu ihrem eigenen Schutz hier nicht erwähnen möchte. Bereits bei diesem Satz dürfte Ihnen schon dämmern: Es war nicht der Bringer. Aber von vorn. Leicht enthusiastisch über die anstehende Wellnessbehandlung (außerhalb der thailändischen und Adria-Strand-Dumpingpreise hatte ich mir noch nie zuvor eine professionelle Massage gegönnt) schwang ich mich auf zum Haus der Masseurin, für die ich mich entschieden hatte. Meine Füße ziepten bereits angemessen. Die Befürchtung, sie würden sich alsbald denn die Hilfe zum (im wahrsten Sinne des Wortes) Greifen nahe stünde, von ihrer besten Seite und absolut unbeleidigt zeigen wie man es von Besuchen beim Arzt kennt (Ich glaube mir fehlt doch nix-mäßig), bestätigte sich glücklicherweise nicht. Die schmerzenden Fußsohlen steigerten meine Vorfreude ins Unermessliche.

Leider hatte ich bei meiner Wahl wohl das entscheidende Prädikat überlesen. Nämlich "Heil". "Heilmasseurin". Wahrscheinlich hätte ich die Räumlichkeiten verlassen sollen, sobald mich die (zugegeben sehr freundliche) Dame mit einem kleinen Stapel an auszufüllenden Dokumenten empfing. Vollständiger Name, Adresse, Telefonnummer, das hatte ich erwartet. Doch die Liste ging weiter. Beruf? Hobbys? Medikamente? Bisherige Operationen? Ziemlich bald fühlte ich mich wie bei einem Vorsorgetermin beim Arzt. Ich war so frech und fragte nach. Was genau denn diese Liste mit meinen Füßen zu tun habe?

Die Dame lächelte nur wissend, so wie diese Menschen immer lächeln. Der stillen Überzeugung gewiss, dass sie eine ganze Welt kenne, die mir vielleicht für immer verborgen bleibe. Dieses Lächeln von selbsternannten Kennern angesichts der Ahnungslosigkeit der Ungläubigen. "Ja, Sie werden staunen", sagte sie schließlich bedächtig und ließ sich jedes Wort genießerisch auf der Zunge zergehen.

Sie behielt Recht, ich würde staunen. Leider nicht angesichts der unglaublichen Hülle und Fülle an Wissen die mir (so wie sie sich das wohl vorstellte) die Augen für immer öffnen und mich fortan als völlig neuen Menschen durch die Welt tragen sollte. Ich staunte eher, wie sehr Menschen eigentlich aneinander vorbei reden können.

Ich bin jetzt mal ehrlich, arrogant und brutal: Ich wollte, dass die Lady meine Füße knetete. Eigentlich am liebsten schweigend. Und das die 30 Minuten, die ich gebucht hatte. Das was nun folgte entsprach dieser Vorstellung zu einem nur unter dem Mikroskop erkennbaren Prozentteil. Nach dem seitenlangen Bogen, den ich ausfüllen musste, war die nächste Anweisung nicht weniger befremdlich. "Ziehen Sie sich dann bitte mal Ihr Oberteil aus". Ja, richtig, Oberteil. Fußmassage und so, eh klar, oder?? Ich war komplett irritiert.

Wie bereits zuvor auf Nachfrage erwähnt, macht mein Rücken lustige Krümmungen in alle Seiten. Die Frau tat so, als hätte ich es NICHT erwähnt. Erstaunt, fast ein wenig fröhlich, gab sie mir Anweisungen, mich nach vorne und wieder zurück zu rollen und gab im Sekundentakt Kommentare wie "Also ja, das ist eine Skuliose", "Mhm", "Spüren Sie die Krümmung?". Ich war nahe dran, irgendein teures Massageöl auf Ihrem Tisch zu packen, es auf den Boden zu schmeißen und die Massage(!)praxis mit ein paar frustgetränkten Fluchen zu verlassen. Nach hunderttausend Physiotherapeuten war das ja nichts Neues, was Madame mir da erzählte. Deswegen war ich nur einfach nicht hier.

Nachdem Sie auch noch meine Pofalten (ich denke mir das ehrlich nicht aus) eingehend gemustert hatte, sollte es schließlich doch noch dazu kommen: Ich sollte mich hinlegen, die Füße seien jetzt dran. Gewaltige zehn Minuten, in denen sie von einem Punkt zum nächsten mit aller Gewalt und mit zwei Fingern hineindrückte und fragte, ob es denn weh tat. Jedes Mal mit einem wissenden, leicht sorgenvollen "Mhm" kommentierend, sobald ich sagte, ja es täte weh. Es folgte ein langer Redeschwall über alle Körperfunktionen die mit diesem oder jenem Punkt verbunden waren. Ich war mir schon bald sicher: Ich bin leider komplett blockiert. Zu meiner Heilung, so war die Dame implizit sicher überzeugt, müsste ich künftig mindestens dreimal die Woche in Ihr Hexenhäuschen eilen.

Zu guter Letzt packte sie noch ein Ding aus, das aussah wie eine große Schraube und verriet mir, sie würde jetzt mein Yang aktivieren. Sprachs und rieb das Gerät nahezu schmerzhaft vom Bauchnabel in einer Linie hinauf bis zum Knie. Wie sich das anfühlte, fragte sie immer wieder. Ich traute mich nicht, sie anzubrüllen.

Es blieb nicht viel Zeit für die eigentliche Massage, denn leider waren mein Rücken und co. totaale Zeitfresser gewesen. Sie müsse sich nun leider schicken, deswegen könne sie meine Füße jetzt nicht mehr bearbeiten. Spätestens hier hätte ich mich wieder gerne wie ein beleidigtes Kleinkind in der Trotzphase auf den Boden geworfen und mit den Fäusten auf den Boden getrommelt. Allerdings machte sich auch ein wenig Erleichterung breit.

Mir tat es Leid um das Geld, das ich an diesem Spätnachmittag los wurde. Meine Vorbehalte gegenüber dem, was sich in meinem Kopf als "alternative Medizin" gefestigt hatte (die wohl nicht zufälligerweise sehr häufig völlig ungefragt angewendet zu werden scheint), hatten noch ein wenig Nährboden gefunden.

Wer diesen Artikel ließt und nur den Kopf schüttelt angesichts meiner Ignoranz: Es tut mir Leid. Auch wenn ich es ehrlich gesagt innerlich tue, wollte ich mit diesem Text nicht die Qualifikation der Frau als Heilerin oder was auch immer anzweifeln. Ich sage nur eins: Ich hatte eine Fußmassage gebucht. Nicht mehr und nicht weniger.

Samstag, 9. August 2014

Ich habe da so eine Idee

Ich habe da so eine Idee im Kopf. Ein Sammelsurium an Träumen und Gedanken. Meistens wühlt sich die Idee sich aus der Oberfläche an Alltagstätigkeiten und To-do-listen hervor, wenn ich zwischendurch ein bisschen spazieren gehe. Dann, wenn ich wahlweise zu Musik oder ohne, je nachdem wie laut der Tag bisher so war, einfach nur einen Fuß vor den anderen setze, gerät das Hirn wie eine Waschmaschine zum Rotieren. Hervor gespült wird dabei die kleine Bemerkung, die mich sehr gefreut hat, manchmal sogar die unerwartete Lösung auf ein scheinbar unlösbares Dilemma und ganz oft sogar völlig neue Gedankenansätze.

Aber da gibts so einen ganz besonderen Gedanken, eine Idee, die mich an manchen Tagen selbst bei stundenlangem Schwimmen (zugegebenermaßen ziiemlich eintönig) nicht langweilen lässt. In diesem Tagtraum, den ich tatsächlich noch nie nachts hatte, geht es immer damit los, dass ich die Augen aufmache und in einer mir persönlich fremden aber meinem Traumich wohl bekannten kleinen Hütte aufwache. Ich muss gestehen, es ist keine Hütte ohne Strom und Warmwasser oder dergleichen. Dafür bin ich wohl erstens zu verwöhnt und zweitens zu ehrlich zu mir selbst.

Aber es ist eine gemütliche Hütte. Vielleicht ist es auch ein kleiner Bungalow. In jedem Fall ist nichts luxuriös oder kitschig daran. Das Mobiliar ist schlicht. Kein Bild hängt zuviel, keine Tapete und erst recht kein Wandtatoo. Aber auch kein Monstrum an Bauernschrank. Weniger ist mehr. Doch fern von diesem Wohntraum geht es, sobald ich ein bisschen gefrühstückt habe, hinaus.

Und da ist das eigentliche Wunder. Meine eigene kleine Farm. Irgendwo in einer Gegend, die allen Bildern, die ich von irischen und schottischen Küsten kenne, sehr ähnlich ist. Vielleicht auch ein bisschen wie Amrum, meine erklärte Lieblingsinsel, irgendwo in der deutschen Nordsee. Ich höre das Meer rauschen. Ich sehe die Hügel vor mir, denen man als ehemaliger Herr-der-Ringe-Fan gar nicht umhin kommt, gedanklich die Türen und Fenster eines Hobbithäuschens hineinzusetzen.

Und da kommen sie schon auf mich zugelaufen. Noch ein bisschen müde, aber sichtlich fröhlich mich zu sehen. Meine Schäfchen. Plüschig wollig sind sie, denn ich schere nach einer eigens entwickelten Methode immer nur so wenig ab, dass die armen Dinger nicht frieren müssen aber ich genug verdiene, um ihnen ein schönes Leben zu bieten. Es sind nur eine Handvoll Schaffe, denn was mir schon immer vorschwebte, bevor ich dieses kleine Gut für mich entdeckte, war ein Hof der vom Gegenteil der Massentierhaltung profitiert.

Ich knuddle jedes einzelne der Schäfchen und kuschle mich in ihre warme weiche Wolle. Dann kommt auch schon mein Kätzchen und schreit ihrerseits nach Pflege und Liebeseinheiten. Sie geht gerne mit mir spazieren. (und jeder der diesen Tagtraum nun für unrealistisch erklärt, dem empfehle ich eine Visite in dem Zuhause meiner Eltern. Dort lebt eine Katze, die das tatsächlich tut. Wirklich.) Nachdem ich meine Schafe gefüttert habe, begebe ich mich an die Küste, um zu schreiben. Denn meine Passion des Schreibens habe ich natürlich nicht aufgegeben. Ich schreibe nicht nur Bücher, sondern auch für die Zeitung, für eine kleine Agentur mit drei wahnsinnig lieben Menschen und für allerhand weitere Arbeitgeber, die ich alle noch aus meinem anderen Leben in der Stadt kenne.

Ich habe mir angewöhnt, per Hand zu schreiben, weil ich so gerne das Selbstgeschriebene in meinem schlichten mit braunem Lederband eingehüllten Notizbüchlein lese. Das Abtippen übernimmt sowieso eine Software, der ich nur vorlesen muss, was ich geschrieben habe. Ich mag es, wenn ich so noch einmal alles durchgehen kann, was ich so fabriziert habe.

Ich höre das Meer rauschen. Noch besser: ich sehe es. Wie ich da auf meinem eigenen kleinen Hügel direkt über den energiegeladenen Wellen sitze, wie sie in spritzender Gischt immer wieder gegen die Felsen schlage, sehe ich der Sonne beim Aufgehen zu. Meine Katze sitzt inzwischen auf mir drauf und schnurrt laut. Sie liebt den Morgen genauso wie ich.

Ich werde heut noch viel machen. Ich werde über die vielen Hügel und Täler laufen und mich dabei wie eine Verbündete vom Wind fühlen, der mich manchmal sachte umspielt, und manchmal vor Wildheit fast umhaut. Ich liebe ihn. Es wird nie wärmer als 20 Grad hier in meinem Traumzuhause und es formen sich faszinierende Wolkenformationen. Selten ist die Sonne wolkenlos, selten muss mir daher so unerträglich heiß werden. Toll.

Toll ist auch, dass meine noch immer geliebte Stadt nicht weit entfernt ist. Denn irgendwie habe ich es geschafft, eine halbirisch-halbschotische Landschaft direkt am Meer ganz in der Nähe von Salzburg zu finden. Ich muss nie einsam sein. Ich kann mich immer in den Trubel von Einheimischen und Touristen begeben, wie sie durch die Stadt spazieren, radeln, bummeln.

Aber allein bin ich sowieso nicht. Nein, nicht wegen der Schafe, nicht einmal wegen der Katze. Wenn ich von meinem heißgeliebten Allerallerlieblingsplatz auf einem Felsvorsprung hoch über den Meereswellen mit meinem Kätzchen im Schlepptau zurück komme, ist auch ER schon wach.

Mein Herzallerliebster. Er war am Anfang nicht begeistert von meinen Plänen. Aber er hat hier allen Platz der Welt für seine Autos und kann ohne Tempolimit fahren, wohin er auch möchte. So ließ er sich überzeugen. Mittlerweile liebt er das Leben hier fast noch mehr wie ich.

Jetzt wissen Sie, was in meinem Kopf so vorgeht, wenn ich spazieren gehen. Und sollten Sie mir begegnen, mich grüßen und keine Antwort erhalten, dann bitte seien Sie mir nicht böse. Ich ignoriere Sie nicht absichtlich, nie. Aber jetzt wissen Sie ja, wo ich gerade wirklich bin.

Mittwoch, 30. Juli 2014

Das was wirklich weh tut

Das Schlimmste ist eigentlich nie dann, wenn es passiert. Sondern das danach. Denn gerade wenn etwas passiert, hält man es ohnehin für schier unmöglich, dass genau das gerade passiert. Hört sich obskur an?  Vielleicht ist es ja nur meine Wahrnehmung. Aber vielleicht erkennt sich auch manch anderer darin wieder.

Es ist eigentlich egal, wie tief man durch ein Schreckensszenario fällt. Zwar mag der eine Schweregrad (geliebter Mensch gestorben) sich von einem anderen (wichtige Klausur nicht bestanden) natürlich in seiner Bedeutung drastisch unterscheiden. Doch immer ist da dieser Moment. Der Moment in dem man sich eigentlich nur noch, einem verrückten Lachen nahe, fragt: "Ne, oder? Haha, ich weiß, das ist ein Scherz!"

Solange die Dinge in Bewegung sind, fühlt man sich noch zur Aktion mächtig. Man kann das Hier und Jetzt annehmen oder ablehnen, kann bewusst mit einer schlimmen Nachricht umgehen, hat den Moment scheinbar in seiner Gewalt. Bekommt man etwas mitgeteilt, das schmerzt, und das von einem Menschen, der einem im gleichen Atemzug auch wertvolle Gesellschaft und Beistand leisten kann, ist alles noch klar definiert. Etwas ist passiert und jetzt bedarf es einer Reaktion. Vielleicht weinen. Vielleicht auch nicht.

Das Grauen nimmt erst dann seinen Lauf, wenn der Moment, in dem man doch noch alles im Griff hatte und selbst entscheiden konnte, ob man dem Mitgeteilten Glauben oder überhaupt Beachtung schenkt, längst vorbei ist. Man hatte seinen Beistand, weinte seine Tränen. Jetzt ist da nur noch die nackte und nicht mehr von Trost und der Zusatzberechtigung besonderer Umstände ummantelte Realität. Sie fordert einen auf, alsbald weiter zu machen.

So geht man also weiter seinen Weg, egal ob man nun geht oder nicht. Das Schlimme, das man erst wahrnimmt, wenn die ganze Show schon eine Weile läuft, ist, dass man sie nicht anhalten kann. Man kommt heim und sieht etwas, das weh tut. Man geht raus und erinnert sich an etwas, das weh tut. Und dann ist da diese Kälte, wenn man merkt, dass kein Mensch mehr über das nachdenkt, was einen noch immer so bleiern auf dem Herzen lastet.

Genau dieses Kontinuum an schmerzlicher Erinnerung ist es, vor dem ich mich dann immer wieder beim Davonlaufen erwische. Nichts scheint schlimmer als die Untätigkeit. Vielleicht kommt ja irgendwann der Punkt, an dem ich mich wirklich auf das einlasse, was wie ich zugeben muss tatsächlich noch immer der Wahrheit entsprach: Nicht ich bin es, die die Wunden heilen kann, kein Mensch und auch kein Aktionismus. Sondern die Zeit.

Sonntag, 20. Juli 2014

Von Tinder, Part-Time-Beziehungen und der fraulichen Unabhängigkeit

Wer mich kennt, kennt auch meine Leidenschaft für Frauenzeitschriften. Nicht etwa, weil ich sie für allzeitlich wissenschaftlich korrekte Literatur halte, nicht einmal um mir Anregungen für die neueste Nagellackierung oder Wimpern-und-Wangen-Beschminkung zu beschaffen (ich bevorzuge beides nun einmal gerne "nackt"). Sondern weil ich sie für - mal mehr, mal weniger - aufschlussreiche Stilblüten der heutigen Zeit und zudem gute Unterhaltung während des Kauens des Mittagessens halte. Zeitschriften wie die Brigitte gehören in meinen Augen ohnehin in eine vollkommen andere Schublade wie Joy, Closer oder InTouch. Aber das ist wohl ein anderes Kapitel.

Jedenfalls glaube ich, dort einen deutlichen Trend ausmachen zu können. Nicht die aktuelle Mode betreffend sondern den modernen Liebestrend. Waren noch vor Jahren und auch jetzt noch hin und wieder, jedoch mit spürbar sinkender Frequenz, Ratschläge für das Führen einer harmonischen und gleichberechtigten Beziehung gegeben, finden sich immer mehr Tipps, die in eine ganz andere Richtung zielen. Tinder (DIE Flirt-App für alle, die gerne vor Ort nicht mehr als eine Nacht wünschen), die Sinnlosigkeit oder gar Depressionsgarantie der Monogamie und, erst frisch heute konsumiert, die "Part-Time-Beziehung". Auch noch ausgestattet mit einem schicken Anglizismus scheint dies (laut Artikel) das perfekte Partnerschaftsmodell der heutigen Zeit zu sein. Weil man keine Partner mehr sein muss.

Es sei doch wahnsinnig praktisch. Statt sich den ganzen Tag mit Peter, Hans oder Max (schrägstrich Susi, Andrea oder Sibylle) herumschlagen und den gesamten Alltag auch noch um diese Person herum organisieren zu müssen, besorgt man sich einfach einen Teilzeit-Peter/Hans/Max.... Sprich: Man verabredet sich hin und wieder, hat natürlich Sex (denn dieser ist ja gesund, regt den Stoffwechsel an und macht die Haut glatt, wieder ein paar teure Pflegeprodukte und Chiasamen gespart!) in rauen Mengen und bewahrt sich aber - GOTT SEI DANK - eines: Die absolute erklärte Unabhängigkeit.

Das alles erinnert mich stark an das Feminismus-Seminar (eigentlich hieß es anders, aber es belief sich letzten Endes darauf), das ich im letzten Semester belegte. Wir Frauen müssten uns dringend Raum vor den barbarischen und niederträchtigen Mannsbildern schaffen. Denen sei nicht zu trauen. Ganz nach einem der wohl bekanntesten Ärzte-Songs der Welt: "Und falls du doch den Fehler machst und dir nen Ehemann anlachst..." Dabei muss es laut der aktuellen Theorie, der sich fast alle Frauenzeitschriften nun einig zu sein scheinen, gar kein Ehemann sein. Es reicht schon eine erklärte feste Beziehung. Die Katastrophe bereits im vollen Laufe, teilt man sich gar bereits die Wohnung.

Single-Frauen sind schlanker, heißt es in der Zeitschrift, deren Rezeption mich zu diesem Blogeintrag anregte. Nicht nur das, sie sind gesünder, beruflich erfolgreicher. Wahrscheinlich auch noch klüger, schöner und insgesamt toller und begehrenswerter. Der Artikel ließ Raum für jedes weitere hinzugefügte schillernde Adjektiv im Komparativ. Sei frau erstmal den Typen los, der einen Tag und Nacht mit seinen lächerlichen Bedürfnissen stresse, schaffe sie absolut alles, was sie auch nur begehre. Und habe endlich genug Zeit für die lustigen Cocktail- und Sex-and-the-City-Abende mit Petra, Anna und Franzi. Yey.

Ich muss mich jetzt wirklich stark am Kopf kratzen. Ich fühle mich angesichts meiner nackten Gesichtshaut, Wimpern und Nägeln sowie Abneigung gegenüber jeder Art von Schmuck an meiner Haut immer weniger der Gattung Frau zugehörig. Denn ganz ehrlich: Ich hatte das doch. Ich war jahrelang single (selbst in einer vorübergehenden Partnerschaft habe ich es mir mit meiner Bedachtheit auf ein unabhängiges Dasein wie ein Single eingerichtet), lebte in meiner eigenen Bude, ließ mich auf nichts und niemanden ein, auf den/das ich keinen Bock hatte. Ich bekam immer mehr Aufträge als Texterin, schloss meinen Bachelor der Kommunikationswissenschaft ab und hatte dicke Armmuckis, da ich alle meine Einkaufstüten selber schleppte. Ich hatte Freundinnen und Freunde, aber letztlich arbeitete ich am Abend lieber bis spät in die Nacht hinein, verbrachte die restliche Zeit mit Yoga, Laufen und Schwimmen.

Was war ich nicht unabhängig. Obendrein hatte ich noch Teilzeit-Partner im Sinne von Dates hin und wieder mit Typen. Ich habe also irgendwo das Idealbild dieser Zeitschriften gelebt. Und nun kommt der Oberhammer, und es tut mir Leid, liebe myself, Brigitte, Freundin und co: Ich bin schwach geworden.

Heute lebe ich mit meinem Freund zusammen, mit dem ich, bitte verzeiht mir, überaus glücklich bin. So oft wie ich von nörgelnden Partnern lese, die ihre Freundin nötigen, endlich mit dem Arbeiten aufzuhören (ohne zu fragen, ob es nicht rein zufällig einfach für den morgigen Tag notwendig sei), die nicht bügeln können oder sich weigern, zu kochen, muss ich mich ehrlich fragen: Was haben die denn bitte für Typen? Tut mir Leid, aber ich weiß echt nicht, wo man den heutzutage noch herkriegt. Vielleicht richten sich die Artikel ja an die Ehefrauen, die Mitte des letzten Jahrhunderts geheiratet haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die sich noch von ihren (offenbar absolut nichtsnutzigen) Männern trennen, geht, haben sie es denn jetzt noch nicht getan, doch wahrscheinlich gen null.

Die jungen Männer (20-40), die ich kenne, geben der Frau die Chance, aufzuhören, Feminismus zu zelebrieren. Es mag ja noch Ungleichheiten in der beruflichen Einkommensverteilungen geben. Doch privat fangen die Kerle schon fast an zu nerven, wie sie alltäglich ihre neuesten Kochkreationen auf Facebook posten. Von meinem Herzallerliebsten und mir, bin ich es, die nicht bügeln, nicht kochen kann und die sich VON IHM die Wasch- und Spülmaschine erklären lassen musste. Er kann das alles und macht es ohne zu Murren. Während ich, sobald ich mal die Bude sauge, wie ein hechelnd-buhlender Labrador am liebsten mindestens eine Stunde pro Saugminute gestreichelt und gelobt werden möchte. Ja, das ist ein großes Geständnis, aber ist wohl notwendig, angesichts dessen, was ich nun immer häufiger lese.

Ok ich gebe zu, es gibt Passagen, in denen es auch mal schwierig werden kann. So sträubte sich mein Herzallerliebster zunächst tierisch (oder eben nicht) einem Kätzchen in unserer Wohnung ein Heim zu geben. Zu laut, zu stinkend, zu haarig, so seine Argumente. Ich möchte den Blick also nicht verklären, dass es tatsächlich DIE Beziehung lebe, in der es keine Widersprüchlichkeiten und keine auseinander driftenden Meinungen gibt. Ganz im Gegenteil. Letztlich zockelte besagter Liebster jedoch eine Stunde lang die Bundesstraße mit mir entlang und fuhr mich zu meinem erhofften und tiefst erwünschten Schicksal. Im Arm nahm ich mein neugewonnenes gefühlte zehn Gramm wiegendes Katzenkleinkindglück selig mit auf die Reise gen Zukunft, und eine Stunde ging es wieder zurück. Seitdem ist es für mich eines der schönsten Dinge, mit ihm gemeinsam stundenlang dem Kätzchen beim Spielen zuzuschauen. Wenn er dann so grinsen und lachen muss wie ich, glaube ich, dass mein Herz vor lauter Liebe überschäumen muss. Klingt kitschig, ist aber so.

Zum Thema Part-Time-Beziehung: Nein. Einfach nur nein. Also nicht, dass ich es irgendwem verbieten würde, um Gottes Willen. Darf ja wirklich jeder lieben und leben wie er möchte. Aber ich kann nur sagen: Erst gestern war ich mit meinem Herzallerliebsten bei seiner Familie und habe es genossen, mich absolut wohl, glücklich und vor allem dazugehörig zu fühlen. Ich hatte all das, das Einzelkämpfen, das Nur-Freundschaften, absolut-frei-und-unabhängig-sein. Auch das Kompromisslose, was mir vielleicht manchmal noch am meisten fehlt, ist angesichts dessen, was ich seit dem Zusammenziehen mit IHM dazu gewonnen habe, wirklich nicht der Rede wert.

Es gibt, so finde ich, und ziehe mich auch gleich verschämt in die Ecke der Altmodischen und Langweiligen, nichts schöneres, als am Abend neben dem selben geliebten Gesicht und Körper zu liegen und am nächsten Morgen wieder aufzuwachen um sein erstes Grummeln und Blinzeln zu vernehmen, sobald man ihn wach küsst. Immer wieder zusammen nach Lösungen zu streben und in die selben Augen zu schauen, die mit der Zeit immer mehr und mehr Geschichten mit einem teilen. Irgendwann so viele Anekdoten zu haben, das man sie nicht mehr aussprechen muss sondern angesichts einer Situation lauthals lachen muss, ohne dass irgendwer im Umkreis auch nur einen blassen Schimmer hat, was denn nun bitte so komisch sein soll. Die liebevollen Rituale, die vielleicht kleiner weil doch recht anstrengend werden. Die liebevollen Blicke, die zwar seltener aber dafür tiefer werden. Es ist, zugegebenermaßen, nicht das Dauerprogramm Romantik, das man sich mit einer Langzeit-Beziehung bucht. Aber es ist die doppelte, dreifache, hundertfache Portion an Vertrauen und geteiltem Glück angesichts der gemeinsam gesammelten Erfahrungen und der Höhle, die man sich gemeinsam geschaffen hat.

Dabei geht es nicht nur um die Substanz, die eine solche Beziehung im Vergleich zu zwei-mal-die-Woche-hopp-und-Sex-Part-Time in sich trägt. Es geht um das reine Gefühl: Schnurr, wie schön, das ist mein Hafen. Von dem aus kann ich steuern, wohin ich will, zu den vielen Ufern der Karrieremöglichkeit, der Seminare und Projekte meines Studiums, Freundinnen und Freunden, der Adoption einer Mietzekatze, sportliche Herausforderungen, und wo immer es mich auch hintreiben mag. Denn mein Freund lässt mich. Und ich hoffe für alle die anderen Mädchen und Frauen da draußen, dass es doch noch ein paar Exemplare von ihm gibt.

Denn mit dem lohnt es sich. Und ja ich spreche es aus: Gemeinsam alt zu werden. Ganz ohne Teil-Zeit-Peter und angeblich erfolgreicher Single-Karriere. Hau!

Freitag, 18. Juli 2014

Vom Segen eines Bauchweh-Vormittags

Aua. Ich liege in meinem Bett mit Bauchweh. Höchstwahrscheinlicher Grund: Nicht schlau genug gewesen, die neuen Haferflocken, die doch etwas großkörniger anmuten als die vorher genossene Sorte, einzuweichen sondern gierig wie sie sind in sich hineinzuschlingen. Mein Magen lässt mich das jetzt wellenartig spüren und bedankt sich damit recht herzlich für diese Heidenarbeit.

Aber wie fast immer im Leben kommt mit dem Übel auch etwas Gutes. Als mein heutiger Vormittagstermin abgeblasen wurde, war ich (obwohl es ein schöner Termin gewesen wäre) nicht traurig. Stattdessen tat ich etwas, das ich tagsüber selten und vormittags niemals nie tue. Ich legte die Beine hoch auf das mit einer Decke überzogene Couchbett in unserem Wohnzimmer und beschloss, nicht mehr allzu bald aufzustehen.

Nach ein paar Dreh- und Wendemanövern, in welcher Pose es Madame Magen denn am genehmsten sei, hatte ich eine gute Position gefunden, in der ich mich fühlte wie ein fauler, (in Anbetracht der Umstände) zufriedener Löwe. Schlafen konnte ich nicht, denn die sieben Stunden nachts reichen bisweilen noch aus. Stattdessen sinnierte ich. Aber nicht auf eine grüberlisch schmerzhaft unglückliche Weise, sondern sehr wohlig. Das Schnurren übernahm mein Kätzchen neben mir und synchronisierte meinen Zustand.

So da liegend, zwar immer wieder von krampfartigen Stößen gestört und gelegentlich von gereiztem Beschwerdeknurren der lieben Madame (Magen, nicht Katze) an meine Fehlernährung von heute Morgen erinnert, döste ich vor mich hin. Es ist ein heller Raum und die Sonne scheint genau so viel, dass man sich wohl fühlt aber dass es einen nicht heiß ist. Ich fühlte mich warm und glücklich.

Ich dachte über mein Leben nach. Über die Entwicklungen des letzten und diesen Jahres, die mein ganzes Leben gedreht und gewendet und an einen Glückspol manövriert haben, den ich nie für möglich gehalten hätte. Nie zuvor habe ich ein Heim gehabt, in dem ich mich wie ein fauler, zufriedener Löwe fühlen konnte. Ich hätte jetzt auch gerne geschnurrt.

Ich dachte natürlich auch an meinen Herzallerliebsten. Wie ich mich darauf freute, wenn er heute Nachmittag heimkommen würde. Wie wir am besten unser ganzes Leben miteinander verbringen und uns immer wieder neue Höhlen schaffen werden würden. Ich dachte an unsere neu adoptierte Katze Snowflake. Etwa drei Monate alt und schon ein kleiner Wirbelwind, den ich allzu oft geneigt bin, aufgrund von akuter Cuteness Overload vor lauter Liebe und Zärtlichkeit aufzufressen.

Dann dachte ich auch über meine berufliche Entwicklung und mein Studium nach. Obgleich vieles anders kam als gedacht, kann ich behaupten, mich als durchaus erfolgreich zu fühlen. Je nachdem, mit wem ich mich vergleiche. Denn ich bin weit davon entfernt, wahlweise reich, berühmt oder gar beides zu sein. Das einzige, was ich mir immer von meinem Beruf erwartet habe, ist und bleibt erfüllt: Ich stehe morgens gerne auf, für das, was ich tue. Und ich kann mich selbst verwirklichen.

Wenn das hier allzu beseelt und aalglatt selbstzufrieden klingt, so bitte ich, dies zu entschuldigen. Ich gehöre, zu meiner Verteidigung, ja eigentlich nicht zu den Menschen, die sich zu jedem gerade in Unbeschäftigtkeit Gewähnten dazuschleichen um ihm/ihr zu verkünden, wie toll man selbst und das eigene Leben sei (nein, echt nicht!). Ich bin gar nicht immer so selbstzufrieden, was mich wohl als Mensch auszeichnet.

Es war einfach nur ein wunderschöner Moment, der mich lehrte, welche Glückseligkeit eine vom Magendarmtrakt erzwungene Pause an einem sonnigen Vormittag irgendwo auf einem schönen Bett mit sich bringen kann. Da frage ich mich doch: Wäre es das nicht wert, zu wiederholen?

Vielleicht, Löwe. Vielleicht.

Mittwoch, 9. Juli 2014

Fußball? Nein danke.




Also mir langts jetzt mit dem Fußball. Ohne Witz. Und das obgleich ich Deutsche bin und dank des, ich zitiere, "historischen" 7-1 im Halbfinale gegen Brasilien eigentlich in lautem Jauchzgehüpfe zergehen sollte. Tatsächlich hab ich mich gefreut, als ich die frohe Botschaft am nächsten Tag im Internet vernahm (sorry, aber 22 Uhr ist definitiv nicht meine Uhrzeit). Die Freude wurde aber bereits in ihrer Entstehungsphase von dem erstickt, was mir im Laufe des Tages noch begegnen sollte.

Da waren die traurigen Gesichter der Brasilianer, wie sie heulend und Zähen knirschend in der Ecke lagen und jammerten. Die Bilder von Schlägereien und (zu) wild gewordenen Fans. Und dann waren da die Kommentare auf Facebook. Ja, ich weiß, man darf sie in mancherlei Fall so oder so nicht zu streng auf Relevanz, Bedachtheit, Herz und Nieren prüfen, aber irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr sehen. Da waren die "Yeah yeah Schlaaand!" auf der einen (deutschen) Seite und auf der anderen (österreichischen) "Urg i speib glei". Irgendwie tat mir gerade letzteres schon ein bisschen weh. Was mich selbst wundert, denn eigentlich sehe ich mich mehr als Erdenbürgerin denn als einer Nationalität zugeordneten Person. Doch ich wurde nun einmal in Bayern geboren und bin im 10.000-Einwohner-Städtchen Ebersberg aufgewachsen und eben dieses wunderschöne Städtchen in Bayern zählt gemeinhin nun einmal zu Deutschland. Und wenn jemand das Land, in dem ich nicht nur laufen sondern auch schreiben, leben und lieben lernte, so lapidar zum Buhmann der Nation ernennt, dann tut mir das nun mal weh.

In meinen Augen ist das nicht Nationalstolz sondern ganz einfach das Festhalten an dem, was man bisher erlebt hat und wo man dies erlebt hat. Ich berufe mich (eben) keineswegs auf irgendwelche Teile der Geschichte und/oder (angebliche) Fähigkeiten und Merkmale der Deutschen, sehe mich nicht als in irgendeiner Form Privilegierte aufgrund meines Geburtsortes, den sich ja wohl wirklich niemand aussucht. Den Nationalstolz, der einen derzeit überwältigt, sobald man nur den Fernseher anschaltet (oder, zumindest in Deutschland selbst, vermutlich auch wenn man nur auf die Straße geht), kenne ich nicht und habe ich das letzte mal in dieser Form gefeiert als ich 16 war und es noch nicht besser wusste.

Jetzt fühle ich mich irgendwie alt und spaßverderberisch, wenn ich angesichts des Grölens und Jaulens nur angestrengt wahlweise die Augenbrauen hebe oder die Augen zusammenzwicke. Vielleicht würde es helfen, wenn ich das ganze Trara um den Fußball überhaupt nachvollziehen könnte. Vermutlich. Kann ich aber nicht. Wie kann es sein, dass sich da ganze Völkermärsche im Zuge von zweiundzwanzig Hanseln auftun, die anderthalb Stunden über den Platz wienern und versuchen, sich gegenseitig das Ball ins Tor zu dreschen? Woran liegt es, dass hier die Emotionen so hochglühen wie sonst beim Übergang von einem Millenium ins nächste? 

Aber ganz so alt und spaßverderberisch wie gewisse Aktivisten bin ich Gott sei Dank noch nicht. Die sind sich nicht zu blöd und walküren tatsächlich zu jedem einzelnen Auto und Hauswand, dessen Besitzer sich erdreisteten, eine Deutschlandflagge dort zu platzieren, um diese schnellstmöglich zu entfernen. An Stelle der Flagge finden die Fußballfans dann nur noch den Hinweis, sie würden mit ihrem Handeln nationalistisches Denken unterstützen. Meine Güte, echt.

Wer einmal mit dem Rucksack, ach was auch ohne, in der Welt unterwegs war, dem wird schnell klar: Ländergrenzen sind eigentlich sowas von zweites Jahrtausend. Im dritten, in dem wir uns jetzt befinden, passiert sehr viel. Im australischen Brisbane hatte ich Mühe, überhaupt Australier zu finden, soviele Reisenden sind a) unterwegs und so viele Asiaten und Menschen von überall her wohnen b) dort schon für lange oder immer. Und so sieht es doch immer mehr auf der ganzen Welt aus. Die Globalisierung sauge ich mir schließlich nicht gerade aus den Fingern. Ist es nicht der deutliche Trend der heutigen Zeit, dass die Menschen nicht mehr dort bleiben (müssen), wo sie geboren sind, sondern die Grenzen durchbrechen und neues Territorium erkunden?

Ich bin Deutsche. Ich lebe in Salzburg. Vielleicht werde ich eines Tages um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen. Viel mehr plädiere ich für ein ganz neues Konzept: Nationslosigkeit. Erdenbürger, eh schon genannt.
Und dann braucht auch niemand mehr irgendwo eine Flagge entfernen. Oder wimmernd am Boden liegen, weil die "eigene" Fußballmannschaft gerade haushoch verloren hat.
All die Leidenschaft und das Herzblut könnten dann für ganz andere Zwecke genutzt werden. 
Für eine Welt ohne rein geografisch bedingte Grenzen zum Beispiel.